Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition)
selbst, sich unter den Trümmern der eingestürzten Stützwand herauszugraben.
Fassungslos beobachtete Dora das Schauspiel, unfähig, sich der grausamen Vorwürfe zu erwehren, um im letzten Moment den Kopf aus der Schlinge zu ziehen.
Plötzlich aber wurde ihr bewusst, was da gerade geschah, und sogleich begriff sie, worin der einzige Ausweg bestand. Ehe der Büttel sichs versah, stürzte sie zu Götz Steinhaus und seinen beiden Krakauer Freunden, fiel vor dem Kneiphofer Kaufmann auf die Knie und umklammerte seine Beine. Ihre Unterlippe bebte, als sie den Kopf hob und seinen Blick suchte, um ihn um Beistand anzuflehen. Steinhaus räusperte sich verlegen und tat alles, ihren Augen auszuweichen.
»Helft mir, lieber Steinhaus, so helft mir doch! Steht mir in dieser schwersten Stunde meines Lebens bei. Das seid Ihr mir, meiner Familie und auch meinem verstorbenen Gemahl schuldig. Denkt an die Inschrift im Rathaus unserer Heimatstadt: Ein Staat ist nichts nütze, der keine Macht und Energie besitzt gegen die Verbrecher. Aber ein Staat ist ebenso wenig nütze, wenn er seine Macht und Energie verwendet, um die Falschen als Verbrecher abzustrafen. Ihr wisst, wer ich bin, aus welch angesehener alter Familie ich stamme und dass ich mir nie im Leben je etwas habe zuschulden kommen lassen. Ihr wisst ebenso, dass ich eine ehrbare Ehefrau bin, meinen Gemahl um alles in der Welt geliebt und unter seinem furchtbaren Tod entsetzlich gelitten habe. Wie könnt Ihr zulassen, dass ich in der Fremde dastehe wie eine gemeine Mörderin? Wie hätte ich all die Jahre ruhig im Haus meines Gemahls leben und mich dann in Eure Obhut begeben können, um nach Krakau zu reisen? Bedenkt, dass ich mein Kind und all mein Hab und Gut in der Königsberger Altstadt zurückgelassen habe. Hätte ich das getan, wenn ich hier, wie es heißt, meinen Geliebten treffen und fortan mit ihm leben wollte?« Steinhaus’ Antlitz blieb entrückt. Angestrengt starrte er zum Fenster. Sein grauer Spitzbart indes verriet die Erregung, die in ihm tobte. Kaum sichtbar bewegte er sich. Dora schöpfte leise Hoffnung, beschwor ihn: »Entsinnt Euch der Freundschaft mit meinem Vater, gedenkt der Tradition der ehrwürdigen Baumeister Selege im Kneiphof. Traut Ihr mir eine solch schändliche Tat wirklich zu?«
Sie kniete weiter vor ihm, den Blick starr nach oben auf sein Antlitz gerichtet. Er regte sich nicht, räusperte sich nicht einmal mehr, bis er leise, kaum hörbar krächzte: »Es tut mir leid, aber ich kann nichts für Euch tun. Begreift, in welche Lage Ihr mich gebracht habt: Ich habe eine Mörderin angeschleppt, die meine Freundschaft zu den angesehensten Bürgern der Stadt benutzt, um in das Haus ihres gewissenlosen Mitverschwörers zu gelangen!«
Angewidert hielt er inne, spitzte den Mund, um Dora mit einem heftigen Tritt von sich wegzustoßen.
So gut sie ihn verstand, wollte sie nicht begreifen, warum er dem Brief mehr Glauben schenkte als ihr. Von Kindesbeinen an kannte er sie als eine ehrliche Haut, noch viel länger war ihm ihre gesamte Familie vertraut, ebenso wusste er um ihre gute Ehe mit Urban. Eine halbe Ewigkeit wartete sie noch, hoffte, sehnte, flehte inständig doch noch ein winziges Zeichen des Beistands von ihm herbei, einen klitzekleinen Beweis, dass er nicht anders konnte, aber eigentlich anders wollte, und weiterhin zu ihr hielt.
Vergeblich.
Langsam begriff sie, senkte den Blick, rutschte tief enttäuscht ein Stück weiter über den Boden und wandte sich seinem Nachbarn zur Linken, dem Krakauer Kaufmann Stanisław Podski, zu. Bittend hob sie die Hände zu ihm empor, doch auch er sah geflissentlich über sie hinweg. Also rutschte sie abermals auf den Knien weiter und probierte als Letztes ihr Glück bei Feliks Baranami. Er war es immerhin gewesen, dessen jüdischer Freund Gottlieb aus Kazimierz Veit und seinem Vater Unterschlupf geboten hatte. Vielleicht kannte er die beiden ebenfalls und wusste, dass Veit ebenso wenig wie sie zu einem hinterhältigen Mord fähig war. Eindringlich sah sie den rothaarigen Mann an, gewahrte bei ihm zumindest ein leichtes Zucken um die Mundwinkel, das ihr sogleich wie eine Erlösung erschien. Zu ihrer höchsten Befriedigung senkte er den Blick und schaute sie ebenfalls lange schweigend an, um jäh von ihr zurückzuweichen und mit ausgestrecktem Finger auf sie zu zeigen.
»Ihre Augen! Habt Ihr diese Augen gesehen? Das ist der Teufel selbst, der uns daraus entgegenblickt. Die Frau muss vom Teufel besessen sein. Wie
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