Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition)
einen Schritt beiseite.
»Wer seid Ihr, gute Frau?« Behutsam fasste die Herzogin unter Grets Kinn und hob es an. Bang sah Gret zu ihr auf. Die hohe Stirn und die lange, an ihrer Spitze nach oben gebogene Nase sowie die dunklen Augen und der volle Mund waren unverkennbar dem Kopf auf den Münzen ähnlich. Allerdings wirkte Dorothea in Wahrheit noch edler, wozu gewiss die vornehme Blässe der Wangen und das zurückhaltende Rot der Lippen beitrugen. Weiß blitzten die großen Zähne dazwischen hervor. »Nun?«, hakte sie nach und lächelte aufmunternd. »Hat es Euch die Sprache verschlagen? Das liegt wohl daran, dass sich der gute Löwener einen Scherz erlaubt und Euch ohne Euer Wissen in meine Nähschule statt in die von Euch ersehnte Bibliothek geführt hat. Der arme Mann will sich einfach nicht damit abfinden, dass auch wir Frauen uns mit dem Bücherstudium beschäftigen. Seht zu, mein Lieber, dass Ihr Euch rasch wieder in die Schreibstube zu Euresgleichen begebt«, wandte sie sich an den Schreiber, dessen ehedem bleiches Gesicht glutrot angelaufen war. »Das Abschreiben der herzoglichen Erlasse erfordert weitaus weniger Vorstellungskraft als der Umgang mit jungen Damen.« Der Zwerg keckerte in seiner Nische vergnügt los. »Scht!«, wies ihn die Herzogin zurecht, bevor sie zu Löwener gerichtet fortfuhr: »Auf dem Weg nach unten geht bitte bei Polyphemus vorbei und schickt ihn hierher. Er soll das Fräulein höchstselbst in die gewünschten Räume bringen. Ihr seid dazu ja leider nicht fähig.«
Artig verbeugte sich der Schreiber und eilte von dannen. In zwei, drei Überschlägen turnte der Zwerg quer durch den Raum, übersprang den Tisch in einem gewagten Salto und tat, als müsste er die Tür hinter dem Schreiber noch einmal extra fest verschließen.
»Darf ich sehen, welches Buch Ihr bei Euch tragt?«, versuchte die Herzogin von neuem Gret zum Reden zu bewegen. Mit einem fragenden Blick auf die dickliche Frau, die dem Nähsaal vorstand, versicherte sich Gret, der Aufforderung Folge leisten zu dürfen, und reichte der hohen Dame das gewünschte Buch mit einem abermaligen Knicks. »Das scheint mir ordentlich schwer. Wir legen es besser auf den Tisch, um es in Ruhe zu betrachten.« Den Folianten vorsichtig mit zwei Händen vor sich hertragend, trat die Herzogin zur Mitte des Tisches. Gret bewunderte ihre kerzengerade Haltung, die selbst von hinten eindrucksvoll anzusehen war. Bis in die Spitzen tadellos frisiert, umrahmte braunes Haar den wohlgeformten Kopf. Ebenso makellos erschien der lange, schmale Hals, den ein kostbarer weißer Spitzenkragen umgab. Das Kleid aus edlem, rot eingefärbtem Damast bestach durch kunstvolle Raffungen an den Ärmeln sowie einem weit fallenden Rock. Die zahlreichen Stickereien aus Gold- und Silberfäden harmonierten aufs trefflichste mit dem Schmuck, den Dorothea in mehreren Lagen auf der Brust trug. An ihren langen, schlanken Fingern stach ein Ring mit einem besonders großen Bernstein hervor. Die honiggelbe Farbe spiegelte das Sonnenlicht, als gälte es, den besonderen Rang der Herzogin auf diese Weise einmal mehr zu unterstreichen. Ebenso wirkte die Art, wie sie sprach, besonders edel und ausgefallen. Flüchtig meinte Gret darin die Abkunft der Herzogin aus Dänemark herauszuhören, ohne genau bestimmen zu können, warum sie das dachte.
Beflissen räumte das Fräulein, das an dem Platz am Tisch gesessen hatte, die Nähsachen beiseite. In gebührendem Abstand bauten sich die anderen und Katharina König kreisförmig um die Herzogin auf. Auch der Zwerg schlich neugierig aus seiner Ecke herüber, schlüpfte zwischen den Fräulein hindurch, um direkt neben der Herzogin auf einen Stuhl zu klettern. Damit hatte er die beste Sicht auf den Tisch. Sorgsam bettete Dorothea das Buch auf die frei gewordene Tischplatte. Gret hielt sich einen Schritt hinter ihr und linste ihr über die Schulter.
Langsam blätterte die Herzogin den Folianten auf, strich mit den Fingerkuppen zärtlich über jede einzelne Seite, als wollte sie die kunstvoll verzierten Initialen, Buchstaben und Zeichnungen darauf ertasten. Dank der getrockneten Rosen- und Veilchenblätter entstieg den Seiten ein angenehmer Duft, der den Brandgeruch des weißen Ledereinbandes rasch vergessen ließ. Dorothea war alsbald von dem Buch gefesselt. Zu Grets Entzücken verweilte sie sehr lang bei den Minneliedern, bevor sie mit großen Augen die ersten Zeilen einer kühnen Abenteuergeschichte überflog und wenig später an einer Seite
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