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Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition)

Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition)

Titel: Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heidi Rehn
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versuchte sich nicht einschüchtern zu lassen und setzte in festem Ton nach: »Polyphemus erwartet mich.« Kaum ausgesprochen, wurde ihr bewusst, dass dieses kühne Vorpreschen schiefgehen konnte. Möglicherweise war der Bibliothekar gar nicht da.
    »So?« Umständlich legte der erste Schreiber den Federkiel in die Schale, faltete die Hände und verharrte eine unerträglich lange Weile in der Position, bevor er erwiderte: »Dann wollen wir mal sehen, ob dem tatsächlich so ist.« Zu ihrer Verwunderung machte er tatsächlich Anstalten, sein Pult zu verlassen und zur Tür zu gehen. Von dort rief er ungeduldig: »Nun macht schon!«
    Gemessenen Schrittes stolzierte sie an den Pulten der übrigen Schreiber vorbei zurück in die Diele. Wie zufällig strichen ihre Finger über den weißen Ledereinband des Buches vor ihrer Brust, ein gut sichtbares Zeichen, wie rechtens ihr Vorsprechen in der Bibliothek war. Der Schreiber eilte bereits die Treppen hinauf. Sie musste sich sputen, mitzuhalten, nahm er mit seinen langen Beinen doch immer gleich zwei Stufen auf einmal.
    Das steinerne Treppenhaus wirkte ähnlich einfach wie das Äußere des Gebäudes. Die Stufen aus grauem Granit waren in der Mitte stark ausgetreten, der ebenfalls steinerne Handlauf glänzte speckig, ein karges Zeugnis der vielen Generationen, die diesen Weg bereits genommen hatten. In mehreren Windungen führte die Treppe an den weißgekalkten Wänden mit schmalen Fenstern vorbei in den ersten Stock. Der Zutritt in die dortigen Gemächer war durch eine schwere doppelflügelige Tür verwehrt. Polyphemus hatte sie letztens, ohne anzuklopfen, geöffnet, der Schreiber aber hastete die Stufen weiter hinauf. Erst auf dem Absatz zum zweiten Obergeschoss blieb er stehen und erwartete sie mit einem breiten Grinsen. Von einem der schmalen Fenster fiel zaghaftes Sonnenlicht genau auf sein Gesicht. Zum ersten Mal gewahrte Gret des bartlosen Antlitzes, dessen Blässe eindeutig von seiner Tätigkeit in geschlossenen, schlecht gelüfteten Räumen stammte. Die eingefallenen Wangen und die dunkel umrandeten Augen schienen ihr ebenso wie der leichte Buckel, der seine Gestalt nach vorn zwang, weitere Begleiterscheinungen des tristen Schreiberdaseins.
    »Hier entlang«, verkündete er und wies mit seinen käsig weißen Händen zu ihrer Verwunderung nicht auf die breite doppelflügelige Tür, die derjenigen im ersten Geschoss ähnelte, sondern auf eine viel unscheinbarere, kleinere, die sich über Eck davon in einer Wandnische befand. Ein niedriger, von winzigen Fenstern zur Hofseite belichteter Gang tat sich dahinter auf. Sofort wusste Gret, dass sie mit Polyphemus niemals in diesem Teil des Schlosses unterwegs gewesen war. Was führte der Schreiber im Schilde?
    Argwöhnisch huschten ihre Augen umher. Weit und breit war niemand außer ihnen beiden zu sehen. Die wenigen Türen im Flur waren allesamt fest verschlossen, die Mauern ellendick. Sollte sich der Mann ihr auf ungebührliche Weise nähern, würde niemand ihre Hilfeschreie hören. Törichtes Weibsstück!, schalt sie sich selbst. Wie recht hatten Oheim und Muhme Wurfbein, sie war eine Pechmarie! Wie hatte sie nur so einfältig sein und sich einbilden können, unbeschadet mit den hohen Herrschaften bei Hofe verkehren zu können? Dass ihr der geschwätzige Bibliothekar letztens wie ein Wasserfall von den Geschicken Preußens erzählt und sie sogleich ins Schloss mitgenommen hatte, bedeutete noch lange nicht, dass sie fortan dazugehörte. Polyphemus war eben doch ein Ungeheuer, das die Menschen zwar nicht auffraß, sie aber mittels seiner bleichgesichtigen Gehilfen in seine abgründige Höhle lockte. Von wegen enge Verwandtschaft mit besten Beziehungen zum herzoglichen Hof! Wie eine liederliche Hure würde man sie gleich davonjagen, nachdem der Schreiber sich an ihr vergangen und Polyphemus ihre Einfalt entlarvt hatte.
    »Wo bleibt Ihr?« Ungeduldig schaute ihr der Schreiber vom Ende des Ganges entgegen und scharrte mit den Füßen. Sie beschloss, dem Unheil wenigstens mit erhobenem Kopf entgegenzutreten. Das Buch wieder wie ein Schild vor der Brust, schritt sie auf ihn zu, allzeit bereit, sich trotz aller Ausweglosigkeit dem Unheil bis aufs äußerste zu erwehren. »Bitte«, erklärte der Schreiber, öffnete die Tür und ließ ihr abermals den Vortritt. Ihre Beine waren wie Blei, dennoch gelang es ihr, einen Fuß vor den anderen zu setzen und sich an dem Mann vorbeizuzwängen, ohne ihm näher als nötig zu kommen. Wider Erwarten

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