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Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition)

Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition)

Titel: Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heidi Rehn
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hielt er alle Finger bei sich und ließ sie unbehelligt eintreten.
    Was aber staunte sie, sich kurz darauf nicht mit dem lüsternen Schreiber in einer schummrigen Kammer wiederzufinden. Stattdessen erwartete sie hinter der Tür ein als überaus großzügig zu bezeichnender Saal. Durch die schmalen Spitzbogenfenster flutete die Aprilsonne einen riesigen Tisch, der nahezu die gesamte Breite des Raums einnahm. An seinen Längsseiten saßen brav nebeneinander ein knappes Dutzend junger Mädchen, die züchtig mit weißen Kopftüchern bedeckten Häupter über Näharbeiten gebeugt. Schweigend stachen sie die Nadeln durch die Stoffe, lauschten dabei dem gleichmäßigen Singsang einer Frauenstimme, die vom Tischende durch den Raum wehte und Minneverse vortrug. Gret war sprachlos. Zum Glück trug sie den Folianten vor der Brust und konnte sich daran festklammern.
    »Gott zum Gruße, lieber Löwener«, flötete die Stimme mit einem eigenartig kehligen Unterton, ihren Vortrag unterbrechend. In wenigen Schritten stand die dickliche kleine Frau vor ihnen und musterte Gret unverhohlen. Gret glaubte die Art zu sprechen in letzter Zeit schon einmal gehört zu haben. Polyphemus!, schoss ihr in den Sinn. Bei ihm klangen die Worte ähnlich aus dem Rachen hervorquellend wie bei dieser Frau. Vermutlich war sie eine Landsmännin, stammte wie er aus Flandern.
    »Wen bringt Ihr mir?«, fragte die Frau unterdessen den Schreiber. »Habe ich Euch nicht längst mitgeteilt, dass ich kein weiteres Fräulein mehr aufnehmen kann? Ihr seht es selbst: Alle Plätze in der Nähschule sind besetzt.«
    Ihre kurzen Arme vollführten eine weit ausholende Bewegung, die den gesamten Raum und die darin befindlichen Mädchen einschloss, bevor sie sich vor ihrem üppigen Busen verschränkten. Helle, wache Augen strahlten Gret aus einem nahezu kreisrunden, faltenlosen Gesicht entgegen. Dennoch war unschwer zu übersehen, dass die Frau bereits eine beeindruckende Zahl Lenze hinter sich hatte. Das schlohweiße Haar unter der Bundhaube wie die dunklen Flecken auf den Handrücken und ihr nahezu zahnloses Lächeln erzählten davon.
    »Ich will zu Polyphemus in die Bibliothek«, erklärte Gret, als Löwener weiter schwieg.
    »Oh, oh, ich verstehe«, säuselte die Frau vergnügt und drohte dem Schreiber mit dem Zeigefinger. »Ihr seid ein elender Schelm, Löwener! In Euer Spatzenhirn will einfach nicht hinein, dass eine kluge junge Frau wie diese sich für die Wissenschaft begeistert. Dabei trägt die Frau sogar gut sichtbar ein dickes Buch mit sich herum. Das sieht mir nicht danach aus, als enthielte es Anweisungen fürs Nähen oder Sticken. Lasst das mal lieber nicht die Herzogin wissen.«
    »Was soll ich lieber nicht wissen, meine liebe Katharina König?« Durch eine Tür im Rücken der Frau trat eine hochgewachsene, reich gekleidete Dame. Dicht hinter ihr drückte sich zu Grets Verblüffen der kleinwüchsige Gaukler aus dem Schlosshof mit in den Saal, um sogleich zu einer der Fensternischen zu hüpfen. Wie ein duldsamer Hund kauerte er sich dort nieder. Gret stockte der Atem. Von den Münzen her war ihr der Anblick der Frau bestens vertraut – Herzogin Dorothea persönlich! Auch der Zwerg in ihrem Gefolge passte, war die hohe Dame doch über die Grenzen ihres Landes hinweg dafür bekannt, sich gern mit Kleinwüchsigen zu umgeben und sie zum besonderen Zeichen ihrer Gunst in alle Welt zu verschenken.
    Vor Scham wollte Gret im Boden versinken. Wie sollte sie der Herzogin angemessen gegenübertreten, um pflichtschuldig ihre Ehrfurcht zu bekunden? Ängstlich äugte sie umher. Die Fräulein an dem langen Tisch unterbrachen lediglich kurz die Arbeit, erhoben sich von ihren Plätzen und versanken in einem Knicks. Die dickliche Frau mit dem runden Gesicht, die die Herzogin mit »meine liebe Katharina König« angeredet hatte, neigte knapp den Kopf. Der Schreiber Löwener verbeugte sich ebenfalls eher halbherzig. Trotzdem versuchte sich auch Gret in einem möglichst ehrerbietigen Knicks wie die Fräulein am Tisch. Aus der Fensternische vernahm sie ein belustigtes Glucksen. Im Handumdrehen tanzte der Zwerg herbei, umsprang sie und drehte ihr dabei eine ebenso lange Nase wie vorhin der Wahrsagerin im Hof.
    »Lasst gut sein«, wiegelte die Herzogin ab, jagte den buntgekleideten Gaukler mit einer Handbewegung fort und kam zu Grets Entsetzen direkt auf sie zu. Die Fräulein gingen zurück an ihre Arbeit, der Zwerg verkroch sich beleidigt in seine Ecke, die dickliche Frau trat

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