Die Liebe des Highlanders
Auge sehen. Wenn sie auf seine Art vorgegangen wären, hätte sie noch vierund zwanzig Stunden Schonfrist gehabt.
»Fahr in Richtung Norden.«
»Aber da ist keine Straße.«
»Das sehe ich«, sagte er grimmig. »Und wenn ich an die denke, über die wir bisher gefahren sind, sollte man meinen, dass es eine geben müsste, die bis zur Burg führt. Das beunruhigt mich.«
Sie schwenkte nach links, und die Scheinwerfer beleuchteten eine mit Gras bewachsene Kuppe.
»Die Böschung hinauf«, drängte er leise.
Gwen holte tief Luft und gehorchte. Plötzlich herrschte er sie an, stehen zu bleiben. Dabei hätte es diesen Befehl gar nicht gebraucht, denn sie hatte vor Aufregung die Kupplung schnalzen lassen und wäre in diesem Gelände ohnehin nicht mehr weiter gekommen. Die Spitzen der aufrechten Steine von Ban Drochaid ragten über den Kamm des Hügels und zeichneten sich schwarz gegen den rötlichen Himmel ab.
»Hm, ich sehe hier keine Burg, MacKeltar«, sagte sie zaghaft.
»Sie ist hinter dem Berg; der Kamm verstellt die Sicht. Sie ist ein Stück zurückversetzt, hinter den Steinen. Komm, ich zeige sie dir.« Er fummelte an dem Türgriff herum, dann sprang er aus dem Auto.
Gwen schaltete die Scheinwerfer und den Motor aus und folgte ihm. Mittlerweile zitterten nicht nur ihre Hände, sondern ihr ganzer Körper, und plötzlich war ihr kalt. »Moment, ich hole nur noch mein Sweatshirt«, sagte sie. Er wartete ungeduldig, den Blick auf die Steine gerichtet. Sie wusste, dass er so schnell wie möglich über den Kamm laufen und nach- sehen wollte, ob es seine Burg noch gab.
Und sie würde diesen Augenblick am liebsten noch lange hinauszögern. »Möchtest du einen Bissen essen, bevor wir losgehen?«, fragte sie munter und griff nach der Tüte mit den Lachspasteten, die sie im letzten Dorf gekauft hatte.
Er lächelte müde. »Komm, Gwen. Jetzt, sofort.«
Mit einem resignierten Achselzucken schlug sie die Wagentür zu und ging zu ihm. Als er ihre Hand nahm, versuchte sie nicht einmal, von ihm abzurücken. Sie hatte das Gefühl, seine Unterstützung genauso zu brauchen wie er die ihre.
Schweigend stiegen sie die Böschung hinauf. Nur das Zirpen der Grillen und die melodischen Laute der Laubfrösche waren zu hören. Als sie den Gipfel erreichten, sog Gwen scharf die Luft ein. Eine sanfte Brise strich über das Gras in nerhalb des Steinkreises. Sie zählte dreizehn Steine, die um eine Steinplatte gruppiert waren. Die Megalithen standen dunkel und stolz vor dem rotgoldenen Horizont.
Hinter den Steinen war nichts.
Sie sah ein paar Fichten, einige sanfte Senken und Kuppen, aber nichts deutete darauf hin, dass hier irgendwo eine Burg stehen könnte.
Sie gingen durch den Steinkreis und verlangsamten ihre Schritte. Denn jenseits der Stümpfe, die einst stattliche Eichen gewesen sein mochten, befanden sich die Grundmauern einer Burg, die es nicht mehr gab.
Gwen vermied es, Drustan anzusehen. Nein, sie wollte sein Gesicht nicht sehen.
Als sie die äußere Mauer erreichten, sank er auf die Knie.
Gwen betrachtete das hohe Gras im Zentrum der Ruine, die großen Steinbrocken, den Schutt und den nächtlichen Himmel über dem stillen Grab der Burg - sie schaute überall hin, nur nicht zu ihm. Sie fürchtete sich vor dem, was sie entdecken könnte. Qualen? Entsetzen? Die Erkenntnis, dass er tatsächlich geistig instabil war? Würde die Angst in diesen schönen silbrigen Augen, die immer so trügerisch klar wirkten, aufflackern?
»Oh, Himmel, sie sind alle tot«, flüsterte er. »Wer hat mein Volk vernichtet? Und warum?« Er holte bebend Luft. »Gwen!«, rief er erstickt.
»Drustan«, sagte sie sanft.
»Ich bitte dich, zu deinem Wagen zurückzugehen und mich eine Weile allein zu lassen.«
Gwen war hin- und hergerissen und zögerte. Einerseits wollte sie nichts lieber tun, als die Beine in die Hand neh men und so schnell wie möglich weglaufen; andererseits spürte sie, dass er sie jetzt mehr brauchte denn je. »Ich bleibe ...«
»Geh.«
Er klang so gequält, dass sie zusammenzuckte und ihn nun doch ansah. Seine Augen waren dunkel und unergründlich, und sie erkannte einen feuchten Schimmer.
»Drustan ...«
»Ich bitte dich, lass mich allein«, flüsterte er. »Lass mich um meinen Clan trauern.«
Sein Flüstern täuschte sie. »Ich habe versprochen, dich nicht zu verlassen ...«
»Sofort!«, donnerte er. Als sie sich immer noch nicht von der Stelle rührte, sprühten seine Augen Feuer. »Du wirst mir gehorchen.«
Gwen
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