Die Liebe des Highlanders
warum müsst Ihr hier oben in dem Turm hausen, wie ein kahles Adlerjunges in einem Horst?«, beschwerte sich Nell, als sie die Tür zu seinem Turmzimmer öffnete. Einhundertunddrei Stufen, und das mit ihrer Hüfte! »Ihr müsst wohl immer hoch hinaus, wie?«
Silvan MacKeltar sah verwirrt von seinem Buch auf. Die silbergraue Mähne umrahmte sein Gesicht. Nell fand den gelehrten Mann schrecklich schön, aber das würde sie ihm niemals zeigen. »Ich bin nicht kahl. Im Gegenteil - ich habe sehr viele Haare.« Er steckte die Nase wieder in sein Buch und las weiter, wobei er mit dem Zeigefinger über die Zeilen fuhr.
Er lebt die meiste Zeit in seiner eigenen Welt, ging es Nell durch den Kopf. Sie hatte sich schon oft gefragt, wie es ihm gelungen war, Söhne zu zeugen. Hatte seine Frau die dicken Folianten zugeschlagen und ihn an den Ohren in ihr Bett gezerrt?
Eigentlich eine gute Idee, dachte sie und betrachtete ihn mit Augen, die in den zwölf Jahren, die sie in diesem Gemäuer zugebracht hatte, niemals auch nur andeutungsweise ihre wahren Empfindungen offenbart hatten.
»Trinkt.« Sie stellte einen Becher neben sein Buch und achtete darauf, dass sie keinen Tropfen auf die kostbaren Sei ten verschüttete.
»Das ist doch nicht wieder ein so scheußliches Gebräu?«
»Nein«, sagte sie mit steinerner Miene. »Es ist einer meiner köstlichen Tränke. Und Ihr braucht ihn, also trinkt ihn aus. Ich gehe erst von hier fort, wenn der Becher leer ist.«
»Hast du ein wenig Kakao dazugemischt?«
»Ihr wisst, dass wir kaum noch Vorrat haben.«
»Nell.« Er seufzte niedergeschlagen und blätterte eine Seite um. »Mach, dass du fortkommst. Ich trinke das später.«
»Und Ihr solltet wissen, dass Euer Sohn auf ist«, erklärte sie, stemmte die Hände in die Hüften, tippte mit dem Fuß auf den Boden und wartete darauf, dass er den Becher leer trank. Als er keine Antwort gab, erkundigte sie sich: »Was soll mit dem Mädchen geschehen, das heute Nacht ins Haus geschneit ist?«
Silvan klappte das Buch zu, vermied aber, Nell anzusehen, um nicht zu verraten, wie gern er das tat. Später, wenn sie hinausging, konnte er sie verstohlen betrachten. Damit tröstete er sich. »Du hast nicht vor, mich allein zu lassen, hab ich Recht?«
»Nicht, bevor Ihr ausgetrunken habt.«
»Wie geht es ihr?«
»Sie schläft noch«, sagte sie zu seinem Profil. Dieser Mann sah sie so gut wie nie an; seit Jahren sprach sie nur mit seinem Profil. »Aber sie scheint keine ernsthaften Verletzungen davongetragen zu haben. Den Heiligen sei Dank, dachte Nell. Sie würde das Mädchen, das nackt und mit dem Blut der Jungfernschaft auf den Schenkeln vor ihr auf die Knie gefallen war, unter allen Umständen vor weiterem Schaden bewahren. Weder ihr noch Silvan war das Blut entgangen, als sie das winzige, bewusstlose Mädchen ins Bett gesteckt hatten. Sie hatten einen besorgten Blick gewechselt, und Silvan hatte verwirrt das Plaid seines Sohnes zwischen den Händen geknetet.
»Hat sie gesagt, was ihr in der letzten Nacht zugestoßen ist?«, wollte er wissen und rieb mit dem Daumen über die Zeichen, die in den Ledereinband des Folianten geprägt waren.
»Nein. Aber sie hat im Schlaf lauter sinnloses Zeug geredet.«
Silvan runzelte die Stirn. »Meinst du, sie ... das, was mit ihr geschehen ist, hat sich auf ihren Verstand oder ihr Gemüt ausgewirkt?«
»Ich denke«, erwiderte Nell behutsam, »je weniger Fragen wir ihr im Augenblick stellen, umso besser. Es ist offensichtlich, dass sie eine Bleibe braucht - schließlich hatte sie nichts bei sich, nicht einmal Kleider. Ich bitte Euch, bietet ihr Obdach, wie Ihr es mir vor vielen Jahren geboten habt. Sie wird uns von selbst alles erzählen, wenn sie dazu bereit ist.«
»Nun, wenn sie dir auch nur im Entferntesten ähnelt, werde ich niemals mehr über sie erfahren«, sagte Silvan mit einstudierter Beiläufigkeit.
Nell hielt den Atem an. In all den Jahren hatte er sie nicht ein einziges Mal gefragt, was in der Nacht geschehen war, als sie Zuflucht in der Burg Keltar gesucht hatte. Es war wie ein Wunder, dass er jetzt eine Anspielung darauf machte. Bei den MacKeltar wurde die Privatsphäre in Ehren gehalten, und manchmal war das ein Segen, manchmal ein Fluch. Die Keltar-Männer steckten die Nase nicht in die Angelegenheiten anderer. Aber Nell wünschte sich oft, dass es einer von ihnen tun möge.
Als Silvan sie vor zwölf Jahren gefunden hatte, zerschun- den auf der Straße liegend, geschlagen und dem Tod
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