Die Liebe des Kartographen: Roman
brauchâ ich nichts mehr dazutun. Nicht, dass es mir was ausmachen tätâ, wenn mir der Kirchgang verboten würde«, fügte sie noch trotzig hinzu. Sie knotete das wie eine Schürze um ihre Hüfte gewickelte Tuch auf und band es sich um den Kopf, um ihre ausgekühlten Ohren und Wangen zu wärmen.
»Ich gehâ gern in die Kirche. Ohne Kirchgang würden wir doch gar nichts mehr davon mitkriegen, was im Dorf geschieht! Es ist doch jetzt schon so, als würden wir am anderen Ende eines breiten Flusses leben, über den es keine Brücken gibt!«, kam es heftig und laut von Xelia. Dann lieà auch sie den Eichenrindenschäler sinken, um sich kurz die Hände unter ihrer Schürze zu wärmen. »Und auÃerdem«, fügte sie leise hinzu, »es ist nicht recht, wenn du so über Mutter sprichst.« Es war einfacher, sich über die Einsamkeit ihres Alltags aufzuregen, als über den Verlust der geliebten Mutter nachzudenken. Sechs Jahre war sie nun schon tot. Wie wäre ihr Leben wohl verlaufen, wenn sie damals bei der Geburt des langersehnten Sohnes überlebt hätte? Sie und das Kind?
»Warum hat sie sich von ihm wieder schwängern lassen? Wenn sie wirklich eine so gute Heilerin war, wie manche Leute behaupten, dann hättâ sie doch wohl etwas dagegen machen können.« In Annas Stimme schwang plötzlich dieganze Verlorenheit einer unfreiwillig Zurückgebliebenen mit.
Xelia biss sich auf die Lippen. Sie wusste nicht, ob es ihr lieber war, wenn Anna zornig oder wenn sie traurig war. Mit der Anna, die immer einen bissigen Spruch auf den Lippen hatte und deren Blick so verschlossen war wie das Tor vom Gut des Markgrafen, konnte sie umgehen, an die war sie gewöhnt. Dass jedoch hinter der verbitterten Miene ihrer jüngeren Schwester eine verletzte Seele steckte, verdrängte Xelia gern. Es reichte ihr, den ganzen Tag Sybilles Leidensmiene zu sehen, sie umsorgen zu müssen, nur weil sie die Jüngste war.
»Gegen das Schwangerwerden ist noch kein Kraut gewachsen, aber wenn Mutter das Kind nicht hättâ austragen wollen, dann hättâ sieâs wohl zu verhindern gewusst. Aber du weiÃt doch, wie der Gerber immerzu auf sie eingeredet hat wegen einem Buben.« Schon mehr als einmal hatte Xelia selbst gezittert, wenn die monatliche Blutung auf sich warten lieÃ. Ohne Worte hatten Anna und sie sich jedes Mal angeschaut, jede die Gedanken der anderen gekannt, als wären es die eigenen. Schon mehr als einmal hatte Xelia schlieÃlich mit einer ihrer Kräutermischungen nachhelfen müssen.
Anna lachte bitter auf. Als hätte es keine Redepause gegeben, fuhr sie fort: »Schon bei Sybilles Geburt ist sie fast draufgegangen! Wieso hat sie es bloà nochmals versuchen müssen?«
Dasselbe hatte sich Xelia schon oft gefragt. »Mutter hat doch nie über so etwas gesprochen.« Eigentlich hatte sie ihre Mutter gar nicht richtig gekannt, hatte kaum etwas von ihr gewusst. Im Haus war sie still gewesen, da waren nur die nötigsten Sätze gesprochen worden. Aber wenn sie zusammen drauÃen in den Wiesen gewesen waren, kam alles, was sich in der dunklen Hütte aufgestaut hatte, aus ihr herausgeplätschert wie ein rauschender Bach. Sie hatte stundenlang über die Wirkung verschiedener Heilkräuter erzählen können und mit unendlicher Geduld jede von Xelias Fragen beantwortet. Nur über sich selbst hat sie nie etwas gesagt. Warum hatte Eulalia, die Heilerin, ausgerechnet den Gerber Xaver Feltlin geheiratet? Wie hat sie ihr Leben ausgehalten? Warum hat sie sich nicht gegen seine Grobheiten gewehrt? Viele Fragen, die Xelia nie gestellt hatte und für die es jetzt zu spät war. Sie wusste noch nicht einmal, woher ihre Mutter stammte! Dass sie keine Leinstettenerin gewesen war, hatten die Leute sie allerdings mehr als einmal spüren lassen.
Xelia zog das Messer aus der Tasche und arbeitete weiter. Sie mussten sich beeilen, sonst würde es nachher ein Donnerwetter geben. Sybille würde wahrscheinlich schon mit weinerlicher Miene auf ihre Rückkehr warten. Keiner von ihnen war es besonders wohl dabei, mit dem Gerber allein zu sein. Doch bevor es nach Hause ging, musste Xelia zum Bach, komme, was wolle. Sie konnte es kaum erwarten, das klebrige Harz von ihren Fingern zu bekommen. Mit aller Macht würde sie schrubben müssen, ein wenig Seifenkraut würde ihr dabei helfen, sich reinzuwaschen vom
Weitere Kostenlose Bücher