Die Liebe des Kartographen: Roman
tun für die Leutâ hier drinnen â hast du daran schon einmal gedacht?« Natürlich hatte er. Adalbert Hyronimus sah nicht aus wie jemand, der sich seinem Schicksal so einfach ergab. Xelia wartete.
Hinter ihnen hustete jemand. Gleichzeitig drehten sie sich um. »Hyronimus! Kannst du Barbaras Hals nicht drinnen untersuchen? Das Kind holt sich in der Kälte noch den Tod!«, rief Marlene laut in die Gasse hinein. »Und beeilt euch, ich will schlieÃlich heutâ noch nach Hause!«
Xelia hielt Hyronimusâ Blick mit den Augen fest. Sie hatte das Gefühl, sich frei in seinem Kopf bewegen zu können, so genau wusste sie, was in ihm vorging. Sie wollte nicht in seiner Haut stecken, so viel stand fest.
»Jetzt musst du dich entscheiden«, sagte sie und hielt die Luft an.
~ 42 ~
S ie hatten es geschafft. Sie hatten es wirklich geschafft. Philip schüttelte den Kopf. Sein Herz schlug so heftig, als wäre die Gefahr nicht ausgestanden, sondern stünde erst unmittelbar bevor. Er konnte nicht glauben, dass die drei Schatten, die vor ihm auf dem Weg auftauchten, wirklich da waren.
Seit einer halben Ewigkeit stand er nun schon vor dem Hof und starrte in die Ferne, als könne er allein durch die Kraft seines Blickes Xelias sichere Heimkehr beschwören. Zweimal hatte der Steinbrenner-Bauer seinen Kopf zur Tür herausgestreckt und Philip angeboten, mit ihnen im Warmen zu sitzen. Philip hatte nur abgewinkt. In der engen Hütte hätte er sich eingesperrt gefühlt wie ein wildes Tier, so unruhig, wie er sich fühlte. Und sich über belanglose Dinge unterhalten wollte er schon gar nicht. Als es dunkel und kälter wurde, hatte Barbara ihm einen Becher heiÃe Brühe gebracht und für Xelias Hund eine Speckschwarte. Ansonsten hatte er von der Bauersfamilie nichts gesehen. Wie die beiden so seelenruhig in ihrer Kammer sitzen konnten, mochte Philip nicht begreifen. SchlieÃlich ging es für die Bäuerin doch auch um Kopf und Kragen!
Je länger er wartete, umso schrecklichere Bilder quälten ihn. Marlene, wie sie den Kopf verlor und Xelia verriet. Xelia, wie sie von Kranken angegriffen wurde. Wie eitrige, am Aussatz erkrankte Hände, an denen Finger und GliedmaÃen fehlten, nach ihr griffen. Xelia, wie sie verängstigt nach einem Fluchtweg suchte und keinen fand, eingekesselt inmitten einer aufgebrachten Meute lebender Toter.
Seit sie am Morgen die Scheune verlassen hatte, fragte er sich immer wieder, warum er sie nicht daran gehinderthatte. Zur Not hätte er sie mit Gewalt hier behalten sollen! Und was hatte er getan? Sich schlafend gestellt. Am liebsten hätte er seinen Kopf gegen das Scheunentor geschlagen, auf dass der Schmerz jeden Gedanken betäubte. Stattdessen hatte er begonnen, drauÃen auf und ab zu laufen wie ein Depp, obwohl er vom Steinbrenner-Bauern wusste, dass der Arbeitstag der Waschfrauen erst am Abend endete. Seine Sorge steigerte sich von Stunde zu Stunde, wurde schlieÃlich zu einer alles auslöschenden Panik, vor der er sich nicht mehr in Sicherheit bringen konnte. Bald war er davon überzeugt, Xelia für immer verloren zu haben.
Als der kleinste der drei Schatten sich von den beiden andern löste und das letzte Stück auf ihn zurannte, wich er reflexartig einen Schritt zurück, als stünde er einem Geist gegenüber.
»Alles ist gut gegangen!« Mit einem Juchzer hob Xelia den Hund auf, der vor Freude in hellen Tönen jaulte. Dann schlang sie ihre Arme um Philip. Sie zitterten von der Anstrengung des beschwerlichen Wagenziehens.
Es war Xelia, oder etwa nicht? Hatte der eisige Nordostwind seine Wahrnehmungskraft weggefegt? Aber da waren auch noch die anderen: Hyronimus, der mit versteinerter Miene im Hintergrund stand, Marlene, die mit verschränkten Armen auf etwas zu warten schien. Auch sie waren Wirklichkeit, oder?
In Philips Kopf summte es bedrohlich.
Xelia drückte ihren Mund an seine Wange. Ihre Augen funkelten, ihre Nasenlöcher blähten sich wie nach einem schnellen Lauf. »Wir haben es geschafft!« Er spürte ihren warmen Atem in seinem Ohr. Dann warf sie den Kopf zurück und lachte befreit auf.
So hatte er Xelia noch nie lachen hören. Auf einmal konnte Philip sich nicht mehr beherrschen. Die Dämme, die seine im Laufe des Tages aufgestaute Angst mühsam zurückgehalten hatten, brachen zusammen, und sturzflutartig schwappte alles aus ihm heraus. »Es
Weitere Kostenlose Bücher