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Die Liebe des Wanderchirurgen

Die Liebe des Wanderchirurgen

Titel: Die Liebe des Wanderchirurgen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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sich ein Schrei unter den Gesang gemischt hatte. Es war ein markerschütternder, verzweifelter Schrei in höchster Not, und er kam von achtern. Vitus eilte zum Heck des Schiffs und andere, die ebenfalls den Schrei vernommen hatten, mit ihm.
    »Ooh …«
    Der Schrei war kein Schrei mehr, eher ein ersterbender Laut; er kam nicht vom Schiff, und er kam nicht vom Kai, sondern aus der Tiefe des Raums zwischen Bordwand und Hafenmauer. Ein Mann hing da, halb zerquetscht von den Barkhölzern der
Camborne.
Seine Bewegungen waren matt, Blut rann ihm aus dem Mund. Dann sank sein Kopf kraftlos zur Seite.
    »Der is hin«, fistelte der Zwerg.
    »Der Mann muss sofort geborgen werden«, rief Vitus. Er scheuchte ein paar der gaffenden Matrosen auf. »Los, holt ihn herauf, tut etwas! Wo ist der Erste Offizier?«
    Einer der Gaffer antwortete: »Ich fürchte, es ist der Erste Offizier, Sir.«
    Quälend rannen die Minuten dahin, während die komplizierte Bergungsarbeit ausgeführt wurde. Ein junger Mann war unterdessen hinzugeeilt und hatte sich Vitus als Donovan Stonewell vorgestellt, Arzt an Bord von Ihrer Majestät Schiff
Camborne.
Doch Vitus hatte ihn kaum beachtet, sondern die Kiepe geöffnet und seine chirurgischen Instrumente hervorgeholt. Er wollte für alle Fälle gerüstet sein. »Wenn eine Notoperation durchgeführt werden muss, könnt Ihr mir assistieren, Stonewell, ich bin Vitus von Collincourt.«
    »Oh, Sir, äh, Mylord, das wusste ich nicht, es ist mir eine Ehre …«
    »Jetzt ist nicht Zeit für lange Reden, Stonewell, lasst den Verletzten dort auf den Boden legen, aber vorsichtig. Wir wollen nicht hoffen, dass er sich das Rückgrat gebrochen hat.«
    »Jawohl.« Stonewell kam dem Befehl nach.
    Vitus kniete neben dem Verletzten nieder und drehte dessen Kopf zu sich, um ihn anzusprechen. Doch das Wort blieb ihm im Hals stecken.
    Der Mann war Pigett.

[home]
    Der Kapitän Jackson Steel
    »Stimmt, Mylady, wir sind nur ein Lazarettschiff. Aber im Zweifelsfall werden wir nicht tatenlos zusehen, wenn uns jemand an die Gurgel will. Wir werden den Dons dann eine gehörige Lektion erteilen.«
    S amuel Pigett, der ehemalige Zweite Offizier der
Falcon,
hauchte qualvoll sein Leben aus. Vitus konnte nichts mehr für ihn tun, außer ihm etwas Wasser einzuflößen, und das war wenig genug. »Bleibt ganz ruhig, das Wasser wird Euch erfrischen«, sagte er, aber er sagte es nur der Form halber, denn er war sicher, dass Pigett ihn nicht mehr hörte – ebenso wie Pigett ihn nicht mehr sah, obwohl seine Augen ihn anzustarren schienen.
    »Kennt Ihr den Sterbenden, Mylord?«, fragte Stonewell respektvoll.
    »›Sir‹ reicht«, antwortete Vitus knapp. Stonewell musste nicht unbedingt wissen, welch ein Hundsfott Pigett gewesen war. Pigett war so gut wie tot, und Toten sagte man nichts Schlechtes nach. Da er den knappen Ton seiner Antwort etwas abmildern wollte, streckte er die Hand aus und fügte hinzu: »Ich bin nicht an Bord in meiner Eigenschaft als Earl, sondern als Arzt. Auf gute Zusammenarbeit, Stonewell.«
    »Auf gute Zusammenarbeit, Sir!« Stonewell strahlte. »Ihr seid genau so, wie Professor Banester Euch beschrieben hat.«
    »So? Wie hat er mich denn beschrieben?«
    »Nun …« Stonewell schwankte einen Augenblick zwischen Mitteilungsbedürfnis und Scheu. »Äh, jedenfalls als sehr tüchtig.«
    Vitus lächelte. »So tüchtig nun auch wieder nicht. Nehmen wir an, ich wüsste nicht, woran Pigett stirbt, könntet Ihr mir helfen?«
    »Ich will es versuchen, Sir.« Stonewell untersuchte mit raschen, geschickten Handgriffen die grausamen Quetschungen, die durch die Barkhölzer des Schiffsleibs entstanden waren, schaute dem Sterbenden in Mund, Ohren und Nasenlöcher, tastete noch einmal vorsichtig den Leib ab und kam zu dem Schluss: »Mister Pigett wird seinen inneren Verletzungen erliegen oder wartet« – er prüfte den Puls und den Atem – »er ist ihnen in diesem Moment erlegen.«
    »Gut, Stonewell«, lobte Vitus. »Es sieht ganz so aus. Bitte lasst den Toten wegschaffen. Ich denke, er sollte an Land begraben werden. Es macht keinen Sinn, eine Leiche an Bord zu nehmen, um sie später der See zu übergeben.«
    »Jawohl, Sir.«
    Vitus blickte sich um und sah, das die Traube der Gaffer noch größer geworden war. »Hat jemand gesehen, wie das Unglück passierte?«, fragte er.
    Keiner der Männer wusste etwas. Nur einer meinte, er hätte gesehen, wie Mister Pigett im hinteren Bereich bei den Besanrüsten plötzlich das Gleichgewicht

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