Die Liebe des Wanderchirurgen
zugesprochen …«
Nina lachte und wurde dann ernst. »Ich verstehe. Wird das, äh, noch einmal vorkommen? Ich meine, wäre es nicht besser, den Ausritt abzubrechen und zum Schloss zurückzureiten?«
»Aber nein, Mylady!« In Hartfords Gesicht stand ehrlicher Schrecken. »Gewiss nicht.« Er bot ihr einen Becher mit verdünntem Wein an und beobachtete sie, wie sie mit kleinen Schlucken trank. »Wohl bekomm’s, Mylady«, sagte er und dachte: Es wird der letzte Wein deines Lebens sein.
Als Nina getrunken hatte, sagte sie: »Am liebsten würde ich noch sitzen bleiben, es ist so lauschig hier, aber ich fürchte, wir kämen dann zu spät zurück.«
»Das fürchte ich auch, Mylady.« Hartford dachte an Nella, das kleine Biest, und sagte: »Wenn es euch recht ist, reiten wir weiter.«
Als sie aufgesessen waren und das Gelände verließen, hielt Nina plötzlich Telemach an. »Warte mal, Hartford. Mir ist, als hätte ich plötzlich wütendes Kinderschreien gehört. Wo mag das herkommen? Im Gasthof schien niemand zu sein.«
»Ich höre es auch«, sagte Hartford. »Ich kann es mir nicht erklären. Oder halt: Hinter dem Haus ist sehr hohes Gesträuch, wie ihr seht, und dahinter wiederum werden Schweine gehalten. Vielleicht waren es ein paar quiekende Ferkel?«
»Das mag sein«, sagte Nina und schnalzte mit der Zunge. Telemach setzte sich brav in Bewegung.
Erst war Nella wütend, dann hatte sie Angst, sie würde ihr Lebtag nicht wieder aus dem Häuschen kommen, und dann war sie wieder wütend. Sie untersuchte die Tür, die sich so hartnäckig gegen alle Öffnungsversuche stemmte, und fand schließlich heraus, dass sie von einem Ast verkeilt wurde. Das war nicht von selbst so gekommen! Das hatte jemand mit Absicht gemacht! Aber wer?
Wenn sie es recht bedachte, kam dafür nur Hartford in Frage. »Hartford, du fieser Schomser!«, rief sie und musste kurz an ihren lieben Altlatz denken, der bei Onkel Vitus auf dem Lazarettschiff war und der den fiesen Hartford auch immer Schomser nannte. Dann wandte sie sich wieder dem Ast zu, der unten im Türspalt steckte, und versuchte, ihn von innen wegzudrücken. Natürlich klappte es nicht, und fast wären ihr deshalb die Tränen gekommen. Aber Tränen halfen nicht weiter. Sie musste hinter Hartford und Tante Nina herreiten, denn bestimmt hatte Hartford, dieser Schomser, mit der Tante etwas Böses vor. Eigentlich hatte sie der Tante auch sagen wollen, dass Hartford nichts Gutes mit dem Ausritt im Sinn hatte, weil er schlecht war, schlechter als jeder Hühnerdieb, aber dann hatte sie doch nichts gesagt, weil sie sicher war, dass die Tante ihr nicht glauben würde. Ihr war nichts anderes übriggeblieben, als die Dinge abzuwarten und den beiden zu folgen.
Aber nun konnte sie das nicht mehr, weil sie hier nicht rauskam. Verflixt und zugenäht! Wieso war niemand in dem Gasthof?
Nella formte die Hände zu einem Trichter, weil sie das schon einmal bei Keith gesehen hatte, als dieser besonders laut rufen wollte, und brüllte: »Hilfeee! Holt mich hier raus, Hilfeee!«
»Nanu, was ist denn da los?« Eine Stimme näherte sich. »Da sitzt doch jemand im Donnerhäuschen und kommt nicht raus? Das haben wir gleich!«
Nella hörte Scharren und Ächzen, und dann verschwand der Ast mit einem Ruck. Die Tür schwang auf, vor ihr stand ein kleiner, dicker, rotgesichtiger Mann. »Da hat sich wohl einer einen Spaß mit dir gemacht«, sagte er. »Wer könnte das gewesen sein?«
»Weiß nicht«, antwortete Nella.
»Wie heißt du denn?«
»Nella.«
»Und wo kommst du her?«
»Von Greenvale Castle. Ich bin mit Shorty ausgeritten.«
»Shorty, wer ist Shorty?«
»Mein Pony.«
»Ach so.« Der kleine, dicke, rotgesichtige Mann drohte halb scherzhaft mit dem Finger. »Ich hoffe, deine Mutter weiß, dass du allein unterwegs bist. Ich bin Stevens, der Wirt. Hast du Hunger? Bestimmt hast du Hunger. Wer allein auf einem Pony durch West-Sussex reitet, muss Hunger haben. Meine Frau hat einen Kuchen gebacken, wenn du willst, kannst du ein Stück kriegen.«
Das fand Nella nett, denn sie mochte Kuchen sehr, aber noch wichtiger war, dass sie weiterkam, sonst würde der Vorsprung von Hartford, dem Schomser, zu groß werden. »Vielen Dank«, sagte sie deshalb und deutete einen Knicks an, »aber ich hab keine Zeit, ich muss zurück nach Hause.«
»Dacht ich mir’s doch.« Stevens lachte gutmütig. »Dann reite mal los. Ich sag immer, reisende Leute soll man nicht aufhalten.«
Nella lief zu Shorty,
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