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Die Liebe des Wanderchirurgen

Die Liebe des Wanderchirurgen

Titel: Die Liebe des Wanderchirurgen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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aufsparen. Der wird sich freuen, Euren Rapport zu hören.«
    »Wui, wui, Schütterbart, der Kaptein wird Reißtag mit dir halten, stanzen wird er dich, zwicken, beuteln, zerren …«
    Pigett schwieg und schluckte.
    »Noch etwas, Pigett: Dies ist die Kapitänskajüte, Ihr habt hier nichts verloren. Schert Euch raus.« Vitus machte eine weitere drohende Geste mit dem Wanderstock, was aber kaum mehr nötig war, denn der Zweite Offizier verließ freiwillig und fluchtartig den Raum.
    Vitus atmete hörbar aus. »Das wäre geschafft. Der schmierige Kerl ist fort. Hoffentlich tut er, was ich ihm gesagt habe.«
    »Wui, wui.«
    »Du könntest mir einen Gefallen erweisen, Zwerg, geh zur Feuerstelle am Bug, vielleicht gibt es an Bord noch einen Koch. Eine heiße Brühe wird den herumliegenden Kreaturen auf die Beine helfen. Ich gehe derweil zur Kammer von Doktor Hall.«
    Sie trennten sich. Während der Zwerg nach vorn hüpfte, suchte Vitus die Kammer des alten Schiffsarztes auf. Er erwartete nicht, ihn anzutreffen, denn Hall musste mittlerweile vierundsiebzig oder fünfundsiebzig Jahre zählen. Vielleicht war er auch schon tot.
    Der Raum jedoch sah aus, als hätte Hall ihn gerade erst verlassen. Noch immer war er klein, noch immer ließ das Fenster wenig Tageslicht herein, und noch immer hing da der Schrank mit den chirurgischen Instrumenten. Vitus nahm die Kiepe von den Schultern, stellte sie ab, und blickte auf die drei Kojen, die ihn in Form eines offenen U umgaben. In der Fensterkoje hatte Hall gelegen, in den beiden anderen er und der Magister. Wie lange war das her? Zwölf Jahre? Nicht zu glauben, wie die Zeit verging. Vitus fragte sich, wo der kleine Gelehrte gerade sein mochte, schob den Gedanken aber ärgerlich beiseite. Der Magister war für ihn gestorben.
    Er setzte sich auf die Koje, die einmal seine gewesen war, und begann die Kiepe auszupacken. Tausend Gedanken schwirrten ihm dabei durch den Kopf. Wie sollten Taggart und er mit einem so heruntergekommenen Schiff jemals Spanien erreichen? Es war unmöglich. Und selbst wenn es möglich war, die
Falcon
wieder segelfähig zu machen, würde das Wochen, wenn nicht gar Monate in Anspruch nehmen. Bis dahin wäre die Armada längst vor Englands Küsten. Unangemeldet und todbringend.
    Als seine Sachen verstaut waren, warf Vitus einen Blick in den Instrumentenschrank. Die Werkzeuge, die darin hingen, waren sämtlich alt und angerostet. Man sah ihnen an, dass sie jahrelang nicht benutzt worden waren. Bevor die Skalpelle, Lanzetten, Spatel, Knochensägen, Spreizer und Pinzetten eingesetzt werden konnten – was hoffentlich nie der Fall sein würde –, mussten sie gründlich gereinigt und hergerichtet werden. Da er im Augenblick nichts anderes zu tun hatte, beschloss er, gleich damit anzufangen. Er scheuerte und schärfte die Stahlklingen der Skalpelle, wechselte die Blätter in den bügelförmigen Knochensägen aus, richtete verbogene Pinzetten, tat dies und tat das und merkte, wie er über alledem ruhiger wurde. Er breitete die Instrumente halbkreisförmig vor sich aus und spürte die Freude, die eine gut gelungene Arbeit vermittelt. Dann merkte er, wie seine Augenlider schwer wurden, aber er wollte jetzt nicht schlafen.
    Eine der Pinzetten richtete sich auf, begann sich auf ihren Enden zu drehen, hüpfte mit einem zarten »Pling« auf den Schenkel eines Spreizers, der sie mit einem Pfeifton empfing und zu dehnen versuchte, was jedoch nicht gelang, weil ein Spatel dazwischenging. Der Spatel vibrierte dabei so stark, dass es wie ein Trommelwirbel klang. Seltsam, alle Instrumente schienen sich auf einmal zu bewegen, ein Eigenleben zu entwickeln, Töne zu produzieren. Was war das? Waren aus chirurgischen Instrumenten Musikinstrumente geworden? Unsinn, so etwas gab es nicht.
    Vitus wachte auf. Er war für ein paar Minuten eingenickt. Die stählernen Werkzeuge lagen nach wie vor im Halbkreis da, nur brachten sie keine Töne hervor. Er stand auf und blickte aus dem Fenster. Richtig, in zweihundert Yards Entfernung marschierte ein Musikzug vorbei. Daher also sein wirrer Traum. Der Schlaf hatte ihm einen Streich gespielt. Es würde gut sein, den Kopf in eine Schüssel mit kaltem Wasser zu stecken. Das würde ihn wieder wach machen.
    Was war eigentlich aus den Schnapsleichen geworden? Auch ihnen würde eine kalte Dusche guttun. Doch wenn er es recht bedachte, war das wohl nicht mehr nötig. Pigett hatte ihnen sicher Beine gemacht. Er lauschte. Außer den verklingenden Tönen des

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