Die Liebe des Wanderchirurgen
denn hier unten, in den tiefsten Eingeweiden des Schiffs, teilten sich die Bewegungen des Rumpfs viel unbarmherziger mit.
Odder lag gekrümmt auf der Seite, sein von den Spuren des Alkohols gezeichnetes Gesicht sah nahezu friedlich aus, vielleicht sogar dankbar, denn die Mühsal des Lebens war für ihn zu Ende. Vitus überlegte einen Moment, an was ihn das Gesicht erinnerte, dann wusste er es. Es war die Zeichnung, die Isabella bei sich trug, als er sie befreit hatte. Einer der beiden Köpfe darauf war Odders Kopf. Odder und Isabella, was hatten die beiden miteinander zu tun?
Vitus beschloss, die Beantwortung der Frage aufzuschieben, und machte sich an die Untersuchung der Leiche. Viel war jedoch nicht zu tun. Odder war eindeutig tot, er atmete nicht mehr, sein Puls war nicht zu fühlen, und der Zustand seiner Haut mit den Druckstellen und den ausgeprägten Totenflecken bewies, dass auch der
Rigor mortis,
die Totenstarre, aller Wahrscheinlichkeit nach schon länger vorbei war. Ein Abtasten der Leber ergab erwartungsgemäß eine beachtliche Verdickung. Kein Zweifel, Odder hatte sein Leben in Wein ertränkt. Er war den Säufertod gestorben.
Doch was war vorher geschehen? Er hatte zwei Kannen mit Wein dabeigehabt, die er womöglich mit Isabella teilen wollte – nur war er zu spät gekommen. Seltsam. Hatten die beiden öfter miteinander gezecht? Hatte Isabella übertrieben, als sie behauptete, zahllose Male vergewaltigt worden zu sein? Was steckte dahinter? Vitus beschloss, das Naheliegendste zu tun.
Er würde sie fragen.
Wenig später – Vitus hatte dafür gesorgt, dass Taggart über den neuesten Stand der Dinge informiert wurde – saß er Isabella in Doktor Halls Kammer gegenüber. Ihr schien der Seegang ebenso wenig auszumachen wie ihm, denn ihre Gesichtsfarbe war gesund, die Flechten und Unreinheiten auf ihrer Haut waren größtenteils verschwunden. Überhaupt war festzustellen, dass sie sich überraschend schnell erholt hatte.
»Odder ist tot aufgefunden worden«, sagte er ohne Umschweife.
Isabella sagte nichts. Nur ihre Augen weiteten sich kurz.
»Ich nehme an, du kennst Odder, und ich nehme außerdem an, dass er dich in deinem Verlies besuchte. Die Zeichnung mit deinem und seinem Kopf spricht dafür. Irgendjemand muss sie angefertigt haben.«
Isabella schwieg.
»Warum sagst du nichts?«
»Du hast mich nichts gefragt.«
»Natürlich habe ich dich etwas gefragt. Ich will wissen, was zwischen Odder und dir war. War er einer deiner, äh, Liebhaber?«
»Das geht dich nichts an.«
»O doch, das tut es! Zufällig habe ich dich halb tot aufgefunden, zufällig habe ich dir das Leben gerettet, zufällig habe ich dich hier versteckt. Also?«
»Odder war ein … Freund.«
»Was heißt das?«
»Das geht dich nichts an.«
»Du machst es mir nicht gerade leicht.«
»Warum sollte ich es dir leichtmachen?«
Vitus gab es auf. »Ich stelle also fest, dass du Odder kanntest, er war sogar dein Freund, er hat offenbar eine Zeichnung mit seinem und deinem Kopf zu dir ins Verlies geschmuggelt, ebenso wie Wein und wahrscheinlich auch Nahrung. Ich vermute, er benutzte dein Verlies als Versteck, denn in der Vergangenheit wurde immer wieder nach ihm gesucht. Ich vermute ferner, dass seine Säuferseele so etwas wie Geborgenheit bei dir suchte, eine Geborgenheit, die du wohl genauso brauchtest wie er. Vielleicht hat er dich sogar auf seine Weise angehimmelt, denn er sah sich und dich als ein Paar. Wenn ich näher darüber nachdenke, muss er die Zeichnung selbst angefertigt haben, was ungewöhnlich, aber nicht unwahrscheinlich ist. Niemand sonst kommt dafür in Frage. War es so?«
Isabella sagte nichts.
»War es so?«
»Für einen Wundschneider bist du ziemlich gewitzt.«
Weitere drei Tage später hatte das Wetter etwas aufgeklart, noch immer preschte die
Falcon
nach Süden, und noch immer war der Feind nicht in Sicht. Konnte es sein, dass er sich noch gar nicht auf den Weg gemacht hatte?
Alle auf dem Schiff waren in angespannter Erwartung.
Taggart verharrte Stunde um Stunde hoch oben auf seinem Kommandantendeck, einem Wechselbad der Gefühle zwischen Wut, Schmerz und Sorge ausgesetzt.
Tipperton hockte in seiner kleinen Kammer neben Taggarts Kajüte, vor sich die
Carmina,
die ergötzlichen Gedichte des römischen Dichters Catull.
Chock hatte zum ersten Mal das Dreieckstuch abgenommen, seit Vitus ihm die Schulter wieder eingerenkt hatte, und würfelte mit Muddy und Gerry um ein Pint
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