Die Liebe des Wanderchirurgen
große Leere.
Er träumte, er läge in Doktor Halls Kammer, es war Ruhe auf dem Schiff, ein leichter Wind wehte, Seewasser rieb sich glucksend am Rumpf. Seltsam, Isabella stand da mit ihren kurzgeschorenen Haaren, in seinen Männerkleidern. Er wollte ein grimmiges Gesicht ziehen, aber er hatte das Gefühl, als gelänge es ihm nicht. »Du hast gut gekämpft«, sagte sie, und ihre Stimme klang wieder so metallisch. »Fast so tapfer wie ein Spanier.« Er antwortete nicht, er schaute sie nur an. Geschäftig ging sie in der Kammer auf und ab, ein Tuch in der Hand, das sie von Zeit zu Zeit in der Wasserschüssel anfeuchtete und ihm auf den Kopf legte. Er wunderte sich, denn das Tuch sah aus wie ein Vlies aus Gold. »Was ist das für ein goldenes Tuch?«, hörte er sich fragen. »Es ist nicht golden, es sind die Sonnenstrahlen, die darauf fallen«, antwortete sie. Eine grenzenlose Enttäuschung bemächtigte sich seiner. Wie konnte ein Tuch seine Schmerzen lindern, wenn es nicht aus Gold war? »Ich will es nicht, es ist wertlos«, sagte er. »Ich will dein Tuch nicht, und dich will ich auch nicht. Lass mich allein, Nina kommt gleich und wird mir helfen. Nina, oh, Nina, meine Sanfte, Schöne, Strenge …« Isabellas Stirn umwölkte sich, doch dann lächelte sie wieder mit ihrem schmalen Mund. »Nina«, sagte sie, und es klang wie
niña
– Mädchen, kleines, dummes Mädchen, »Nina ist nicht hier, Nina ist unerreichbar, für immer unerreichbar.« Er spürte, wie sich sein Herz zusammenzog, denn seine Sehnsucht nach Nina war übermächtig, doch Isabella lächelte noch immer, und ihr Mund wurde größer und größer, denn er kam näher und immer näher. Er spürte ihre Lippen auf den seinen, und im ersten Augenblick wunderte er sich, weil sie viel weicher waren, als sie aussahen; sie waren weich und neugierig und erforschten die Konturen seines Mundes, drückten ihn, öffneten ihn, ihre Zunge drang vor und wanderte zwischen seinen Zähnen hindurch, traf sich mit seiner Zunge, spielte mit ihr, schob sie nach innen, umschlang sie, zog sich zurück, kam wieder und umschlang sie wieder … Er spürte, wie sich etwas zwischen seinen Beinen regte, und er spürte ihre Hand genau an dieser Stelle. Er wollte, dass ihre Hand mehr tat, aber das durfte er nicht zulassen. Was würde Nina dazu sagen? Isabellas Zunge schien das nicht zu kümmern, sie grub sich weiter in seinen Mund, und ihre Hand schloss sich fest um sein Gemächt. Es durfte nicht sein. Es war so schön. Es durfte nicht sein. Er schöpfte Luft wie ein Ertrinkender, sein Herz raste, er atmete schwer und schlug um sich.
Halb wach geworden, blinzelte er und sah, dass er tatsächlich in Doktor Halls Kammer lag, dass tatsächlich Ruhe im Schiff herrschte.
Dann kam die Erinnerung wie ein Blitz: der Kampf mit dem Spanier. Die Schüsse. Die Schreie. Die Toten. Die Verletzung von Taggart. Taggart! Was war mit ihm? Er brauchte seine Hilfe!
Vitus wollte sich aufrichten, wurde aber von Isabellas Hand energisch zurückgedrängt. »Du musst liegen bleiben«, sagte sie. »Ich glaube, du hast eine Gehirnerschütterung.«
»Unsinn«, krächzte er und wollte sich abermals aufrichten, doch er spürte, wie ihm schwindelig wurde. »Was ist passiert?«
»Das müsstest du besser wissen als ich. Ich habe während der ganzen Zeit in diesem Loch gesessen und meinen Landsleuten die Daumen gehalten. Ich wusste, sie würden siegen. Als die Kämpfe zu Ende gingen, habe ich die Kammer verlassen und wollte mich an Bord der
San Juan
begeben. Doch es war anders, als ich gedacht hatte. Ihr verfluchten Engländer wart trotz allem dabei, die Oberhand zu gewinnen und meine Landsleute auf ihr Schiff zurückzutreiben. Matrosen kamen herbeigeeilt, sie trugen dich. Im ersten Moment wollte ich fortlaufen, doch dann fiel mir ein, dass ich Männerzeug anhatte, und verließ mich auf die Verkleidung. Ich sprang zurück zur Tür, riss sie auf und rief mit meinem besten Englisch: »Schafft ihn hier rein!« Sie taten es und merkten überhaupt nicht, dass sie es mit einer Frau zu tun hatten. Sie waren viel zu aufgeregt. Sie legten dich in die Koje, deckten dich zu und verschwanden, um weiterzukämpfen. Das war’s.«
Eine Weile verging. Vitus’ Gedanken drehten sich wie ein Kreisel. Er konnte das alles noch nicht glauben.
Isabella nahm ein gelbleinenes Tuch, tauchte es in die Waschschüssel, wrang es aus und kam damit zu ihm. Ein Lichtstrahl fiel durchs Fenster auf das Tuch, es blitzte golden auf.
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