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Die Liebe des Wanderchirurgen

Die Liebe des Wanderchirurgen

Titel: Die Liebe des Wanderchirurgen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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vor ein paar schlecht gezielten Kugeln davonlaufen?« Taggart schwang drohend sein Entermesser.
    »Sir, so kommt doch endlich, Euer Handeln heißt Gott versuchen. Sie zielen direkt auf uns!«
    Es war das Bemühen eines jeden Scharfschüzen, den gegnerischen Kapitän und dessen Offiziere auszuschalten, um so die Kapitulation des Feindes herbeizuführen; außerdem winkten lukrative Prämien für den erfolgreichen Schuss.
    Vitus war mit dem sich sträubenden und Verwünschungen ausstoßenden Taggart schon halb hinter dem Mast, als dieser seinen Lieblingsfluch plötzlich unterbrach: »Himmel und Hölle und bei den Arschb …« und stattdessen zusammenknickte. »Oh, oh …«
    Vitus sah mit Schrecken, dass Taggarts linkes Bein durchschossen worden war und in einem bizarren Winkel abstand. »Sir, ich muss Euch sofort in Sicherheit bringen!«
    Taggart stöhnte: »Verdammt, ich werde doch nicht …!«
    »Sir, mit Verlaub, jetzt spricht der Arzt: Ihr seid kampfunfähig, Euer Leben muss gerettet werden. He,
Falcons,
zu mir! Rettet Euren Captain!«
    Als hätte dieser Hilferuf ihnen Flügel verliehen, strebten McQuarrie und einige Männer augenblicklich dem Kommandantendeck zu. Mit dem Mut der Verzweiflung hieben sie sich eine Gasse durch die Spanier, eilten die Treppen hinauf und deckten mit ihren Körpern den Kapitän ab. Gleichzeitig schossen sie zurück und erwehrten sich immer neuer Attacken der Angreifer, denn kaum war einer von ihnen niedergehauen, erschien schon der Nächste, um den Kampf fortzuführen.
    Taggart, der sich in einem Schockzustand befand, musste unbedingt in seine Kajüte gebracht werden, doch da der Weg über das Hauptdeck vom Feind verstellt war, blieb keine andere Wahl, als ihn über das Heck hinunter abzuseilen. »Nehmt Tauwerk, knotet den Captain hinein und fiert ihn über die Heckreling weg, aber vorsichtig, Männer!«, schrie Vitus. »Wegfieren bis runter zur Galerie! McQuarrie, Ihr geht mit, Ihr schlagt ein Kajütenfenster ein und bringt den Captain in Sicherheit. Und nun nichts wie los, macht schon, macht schon!«
    Vitus klang gehetzt, denn der Druck der nachrückenden Spanier hatte sich nochmals verstärkt. Überall lagen tote oder verletzte
Falcons
herum. Das Deck war rot von Blut. Nur noch kleine Grüppchen wehrten sich hier und dort, die Übermacht der Spanier war einfach zu groß. »He,
Falcons,
alle zu mir aufs Kommandantendeck!«
    Die Verzweiflung gab Vitus Kraft, und er wiederholte mit Stentorstimme seinen Befehl: »
Falcons
zu mir aufs Kommandantendeck! Auf zum letzten Gefecht!«
    Gott sei Dank schien wenigstens McQuarrie mit der ihm gestellten Aufgabe klarzukommen, denn eben verschwand Taggart, der wie ein Kokon verschnürt war, hinter der Heckreling aus dem Gesichtsfeld. Dafür sah es zum Bug hin umso düsterer aus, obwohl sich zehn oder zwölf
Falcons
verbissen in seine Richtung vorkämpften. Sie wussten, die Vereinigung der Kräfte auf dem höchsten Deck war ihre einzige Chance, zu überleben.
    »Alle
Falcons
aufs Kommandantendeck!«, schrie Vitus ein drittes Mal, denn er wollte sicherstellen, dass auch der letzte Mann seinen Ruf hörte.
    »Brave bird, Falcon, brave bird,
    fights like an eagle, fights like a knight …«
    Es war, als gäbe ihnen ihr gemeinsames Lied die zweite Luft, denn noch einmal fochten sie mit neuem Mut, und es gelang ihnen tatsächlich, sich mit Vitus’ Männern zu vereinigen. Kaum zwanzig
Falcons
standen nun mindestens dreimal so vielen Spaniern gegenüber, und obwohl sie den Vorteil der höheren Position hatten und obwohl wie durch ein Wunder das dröhnende
Bummm – Bummm
des Zwergs noch immer vom Vorschiff herüberklang, war der Kampf so gut wie verloren.
    »Für unsere
Lady of the Seas!«,
rief Vitus, nicht ahnend, dass dies für lange Zeit sein letzter Ruf gewesen sein sollte, denn wie aus dem Nichts kommend traf etwas mit furchtbarer Wucht seinen Schädel. Einen Augenblick wankte er, erstaunt und ungläubig, dann fiel er, und im Fallen schossen ihm die Bilder seines ganzen Lebens über die Netzhaut: Der Abt Hardinus und seine Güte … der Folterknecht Nunu und seine Brutalität … der Magister und seine unverbrüchliche Treue … die »Damen« Phoebe und Phyllis und ihre Auswanderungspläne … die Braut Arlette und ihr tragischer Tod … der Handelsherr Hadschi Moktar Bônali und seine zwölf Paar gelber Pantoffeln … Nina, seine Nina, die Sanfte, Schöne, Strenge …
    Dann krachte sein Körper auf die Planken, und in ihm war nur noch eine

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