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Die Liebe des Wanderchirurgen

Die Liebe des Wanderchirurgen

Titel: Die Liebe des Wanderchirurgen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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der Hand von Spielleuten führte sie eine scharfe Zunge, nannte die Dinge beim Namen und sprach bei Volksfesten und Gauklerveranstaltungen stets das an, was die Obrigkeit nicht angesprochen haben wollte.
    Und als jemand, der mit Vitus weit gereist war, wusste er auch, dass
Jack Pudding
viele Namen hatte: In Spanien hieß er
Polichinela
, in Italien
Punchinella,
in Frankreich
Jean Potage,
in den Niederlanden
Jan Khassen,
bei den Eidgenossen
Hans Joggli
und in Deutschland
Hanswurst
oder
Kasper.
Denn überall auf der Welt gab es Maulkörbe und Unterdrückung, und überall auf der Welt brauchten die Menschen ein Ventil für ihre Ängste und Nöte.
    »Komm, Kaptein, schnabulier ’n Fündchen.«
    »Du meinst, ich soll ein Stück von dem Plumpudding probieren? Warum nicht.« Taggart nestelte das Tuch mit dem kugeligen Inhalt auf, ließ sich vom Zwerg einen Löffel geben – ein Esswerkzeug, das dieser als »Schlappstock« bezeichnete –, und kostete. »Hm, ja, lukullisch, lukullisch! Darauf steht ein Tröpfchen Wein.« Er wollte zum Glas greifen, aber die winzigen Hände von
Jack Pudding
waren schneller. Sie nahmen Taggart das Trinkgefäß fort und stellten stattdessen einen Becher vor ihn hin. »Sollst nich so viel Funkel schmettern, Kaptein, sollst Brennnesseltee süppeln, hat der Örl gesacht.«
    »Der Tee kommt mir allmählich zu den Ohren heraus.«
    »Brauchst auch nur die Hälfte süppeln.«
    »Nur die halbe Menge, wieso?«
    »Hast ja nur noch einen Geher.«
    »Ach so.« Trotz der Direktheit des Zwergs musste Taggart schmunzeln. Der Name
Jack Pudding
passte wirklich gut zu ihm, denn er nahm kein Blatt vor den Mund. Genau wie sein Sohn zu Hause. Überhaupt war es überraschend, wie viele Gemeinsamkeiten die beiden hatten. Folgsam trank er von dem Heiltee.
    »So isses recht, Kaptein, un nu solltest du noch’n Schlag lullen, ’s wird kein Zuckerschlecken nich nachher.«
    »Ja«, sagte Taggart, »da hast du wohl recht.«
     
     
     
    Am Nachmittag dieses Tages befand sich Taggart auf dem Kommandantendeck, dessen Planken dank der ausgiebigen Bearbeitung mit dem
Holy stone
nichts mehr von den blutigen Kämpfen anzusehen war. Doch er stand nicht wie üblich an der Querreling, sondern saß auf seinem Lieblingsstuhl, eine Decke über den Schoß gebreitet. Dass er sich dazu bereit erklärt hatte, lag in erster Linie an
Jack Pudding,
der sich die Tatsache, dass er reden durfte, wie ihm der Schnabel gewachsen war, zunutze gemacht und gefistelt hatte: »Wui, wui, Kaptein, lieber glatt gesessen als mies gestanden, un du kannst nich mehr richtich stehn!«
    »Schon gut, Zwerg«, hatte Taggart gemurrt. »Du hast mich überzeugt. Aber es wird das erste und letzte Mal sein, dass ich vor meinen Männern sitze. Nächstes Mal werde ich, so Gott will, wieder stehen, und zwar nicht mit Hilfe von zwei lächerlichen Krücken, sondern mit einem Holzbein.«
    Jack Pudding
hatte singend geantwortet:
    »Auf ein Holzbein
    Kannst nich stolz sein,
    erst richtig fein
    ist’s Elfenbeinbein!«
    Taggart hatte daraufhin Jim, den verbliebenen Zimmermann, rufen lassen und nach einem Bein aus dem Stoßzahn des Elefanten gefragt. Vergebens, wie sich herausstellte, doch konnte Jim wenigstens ein Bein aus Walrosszahn anbieten, und das war immer noch besser als Holz.
    Taggart blickte hinunter auf das Bild, das sich ihm bot: Die Männer der
Falcon
hatten in einem sauberen Karree Aufstellung genommen. Vor ihnen lagen, in Säcke eingenäht und mit je einer der kostbaren Kanonenkugeln beschwert, ihre gefallenen Kameraden. An Steuerbord war die Deckspforte geöffnet worden, um einer schräggestellten Holzrutsche Platz zu machen. Auf der Rutsche lag ausgebreitet die weiße Fahne mit dem roten Georgskreuz. Links und rechts daneben stand je ein Mann Spalier. Es waren die Maate Hutch und Jack. Ihre Aufgabe war es, die Säcke mit den Toten unter der Fahne hindurch ins Meer gleiten zu lassen. Da der Flötist Arch zu den eingenähten Toten zählte und der Zwerg ebenso wie Vitus an Taggarts Seite befohlen war, musste McQuarrie den musikalischen Part allein übernehmen.
    Aber noch war es nicht so weit. Erst war Taggart dran:
    »Männer! Philipp II ., der Dauerbeter, soll letzte Nacht zum ersten Mal in seinem Leben gotteslästerlich geflucht haben. Und wisst Ihr auch, warum? Weil er die Nachricht von der Niederlage der
San Juan
bekam! Tränen soll er vergossen haben, weil so viele seiner Dons gefallen sind. Er ist also nicht nur ein Dauerbeter, sondern auch ein

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