Die Liebe einer Frau
der es überhaupt keine Erklärung für solche Anfälle gab. Und für gewöhnlich gingen diese Anfälle vorüber. Aber oft gab es in den letzten Wochen oder sogar Tagen des Lebens Grübeleien über alte Fehden und Kränkungen oder Greinen über eine vor siebzig Jahren erlittene ungerechte Strafe. Einmal hatte eine Frau Enid gebeten, ihr einen mit chinesischen Motiven bemalten Porzellanteller aus dem Geschirrschrank zu holen, und Enid hatte gedacht, dass sie sich ein letztes Mal vom Anblick dieses einzigen schönen Gegenstandes in ihrem Haushalt trösten lassen wollte. Aber wie sich herausstellte, wollte sie ihre letzte, überraschende Kraft dazu benutzen, um ihn am Bettpfosten zu zertrümmern.
»Jetzt weiß ich, dass meine Schwester ihn nie in die Finger kriegt«, sagte sie.
Und oft äußerten die Menschen, dass Besucher nur kamen, um sich schadenfroh an ihnen zu weiden, und dass der Doktor für ihre Leiden verantwortlich war. Sie hassten schon allein Enids Anblick, um ihrer schlaflosen Stärke und geduldigen Hände willen und der Art, wie die Lebenssäfte in ihr so bewundernswert ausgewogen und kräftig flossen. Enid war das gewohnt, und sie war fähig, die Not zu verstehen, in der sie sich befanden, die Not des Sterbens und auch die Not ihres Lebens, die ihr Sterben manchmal überschattete.
Aber bei Mrs. Quinn war Enid ratlos.
Nicht nur, dass sie hier keinen Trost spenden konnte. Sie vermochte es auch nicht zu wollen. Sie konnte ihre Abneigung gegen diese zum Tode verurteilte, unglückliche junge Frau nicht überwinden. Sie verabscheute diesen Körper, den sie waschen und pudern und mit Eis und Franzbranntwein besänftigen musste. Sie verstand jetzt, was die Leute meinten, wenn sie sagten, dass sie Krankheit und kranke Körper hassten; sie verstand die Frauen, die zu ihr gesagt hatten: Ich weiß nicht, wie Sie das aushalten, ich könnte nie Krankenpflegerin sein, das ist das Einzige, was ich nie könnte. Sie verabscheute diesen einen Körper und alle Symptome seiner Krankheit. Seinen Geruch und seine Verfärbung, die bösartig aussehenden kleinen Brustwarzen und die kümmerlichen, frettchenartigen Zähne. Sie sah all das als Zeichen einer willentlich herbeigeführten Verderbnis. Sie war genauso schlimm wie Mrs. Green und witterte zügellose Verworfenheit. Und das, obwohl sie als Krankenschwester es besser wusste, obwohl es ihre Aufgabe war – und sicher auch ihrem Wesen entsprach –, Mitleid zu empfinden. Sie wusste nicht, warum das so war. Mrs. Quinn erinnerte sie ein wenig an Mädchen, die sie in der Highschool gekannt hatte – billiggekleidete, ungesund aussehende Mädchen mit trostloser Zukunft, die trotzdem eine freche Selbstzufriedenheit an den Tag legten. Sie hielten sich nur ein oder zwei Jahre lang – dann wurden sie schwanger, die meisten von ihnen heirateten. Enid hatte in späteren Jahren einige von ihnen gepflegt, bei Hausgeburten, und festgestellt, dass ihr Selbstvertrauen geschwunden und ihr dreistes Aufbegehren zu Fügsamkeit oder sogar Frömmigkeit geworden war. Sie taten ihr leid, auch wenn Enid sich daran erinnerte, wie sehr sie darauf bedacht gewesen waren, das zu bekommen, was sie dann bekommen hatten.
Mrs. Quinn war ein schwererer Fall. Mrs. Quinn mochte immer weiter verfallen, doch es kam nur trotzige Böswilligkeit zum Vorschein, nur Fäulnis.
Schlimmer noch als die Tatsache, dass Enid diesen Abscheu empfand, war die Tatsache, dass Mrs. Quinn es wusste. Nichts, was Enid an Geduld oder Sanftmut oder Fröhlichkeit aufbot, konnte Mrs. Quinn dieses Wissen nehmen. Und Mrs. Quinn machte dieses Wissen zu ihrem Triumph.
Das rechte Ende für schlechtes Fleisch.
Als Enid zwanzig Jahre alt war und ihre Ausbildung zur Krankenschwester fast abgeschlossen hatte, lag ihr Vater im Krankenhaus von Walley im Sterben. Er sagte zu ihr: »Ich weiß nicht, ob ich viel von deinem Beruf halte. Ich will nicht, dass du in so was arbeitest.«
Enid beugte sich über ihn und fragte ihn, was er mit so was meinte. »Das ist das Krankenhaus von Walley«, sagte sie.
»Das weiß ich«, sagte ihr Vater und hörte sich dabei so ruhig und vernünftig wie immer an (er vermittelte Versicherungen und Grundstücke). »Ich weiß, wovon ich rede. Versprich mir, dass du es lässt.«
»Dass ich was lasse?«, fragte Enid.
»Diese Art Arbeit«, sagte ihr Vater. Sie konnte ihm keine weitere Erklärung entlocken. Er kniff den Mund zusammen, als widerte ihn ihre Fragerei an. Er sagte nur noch: »Versprich es
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