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Die Liebe einer Frau

Die Liebe einer Frau

Titel: Die Liebe einer Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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noch den Fleck vor sich, also holte sie die braune Farbe, die übrig geblieben war, als Rupert die Treppe gestrichen hatte, und strich damit den ganzen Fußboden. Davon fing das an mit dem Erbrechen, immer vorgebeugt und die Farbe eingeatmet. Und die Rückenschmerzen – die fingen da auch an.
    Als sie mit dem Fußboden fertig war, ging sie einfach nicht mehr ins Wohnzimmer. Aber eines Tages dachte sie, sie sollte lieber eine andere Decke auf den Tisch legen. Dadurch würde alles normaler aussehen. Wenn sie es nicht tat, würde ihre Schwägerin bestimmt schnüffeln kommen und fragen: Wo ist denn die Decke, die Mom und Dad mitgebracht haben, als sie damals die Fünflinge besichtigen gefahren sind? Wenn sie eine andere Decke auflegte, konnte sie sagen: Ach, mir war einfach nach einer Veränderung. Aber keine Decke sah merkwürdig aus.
    Also holte sie eine Decke, die Ruperts Mutter mit Blumenkörben bestickt hatte, und brachte sie ins Zimmer, und dieser Geruch stieg ihr wieder in die Nase. Und da auf dem Tisch stand der dunkelrote Kasten mit Mr. Willens’ Sachen und seinem Namen drauf, und der hatte die ganze Zeit da gestanden, sie konnte sich nicht erinnern, dass sie ihn da hingestellt hatte oder gesehen hatte, wie Rupert ihn hinstellte. Sie hatte den Kasten völlig vergessen.
    Sie nahm den Kasten und versteckte ihn erst am einen Ort, und dann versteckte sie ihn an einem andern. Sie sagte keinem, wo sie ihn versteckt hatte, und sie würde es auch nie tun. Sie hätte ihn zertrümmert, aber wie zertrümmert man diese vielen Dinger da drin? Die Untersuchungsdinger. Ach, gute Frau, möchten Sie, dass ich Ihre Augen untersuche, dann setzen Sie sich einfach da hin, ganz bequem, und dann machen Sie einfach das eine Auge zu und das andere weit auf. Ganz weit auf. Es war jedes Mal dasselbe Spiel, und sie durfte sich nicht anmerken lassen, was vorging, und wenn er das Ding ausgepackt hatte und in ihr Auge sah, wollte er, dass sie ganz ruhig blieb, und er, der dreckige alte Wichser, schnaufte los und steckte ihr die Finger rein und schnaufte sich einen ab. Und sie durfte nichts sagen, bis er fertig war und das Guckdings und alles wieder in den Kasten gepackt hatte, und dann musste sie sagen: »Ach, Mr. Willens, wie viel schulde ich Ihnen für heute?«
    Und das war für ihn das Signal, sie runterzuziehen und loszurammeln wie ein alter Ziegenbock. Bumste sie auf dem nackten Fußboden, wummerte auf sie ein und wollte sie kaputtkriegen. Hatte einen Pimmel wie ein Lötkolben.
    Wie hätte Ihnen das gefallen?
    Dann stand es in den Zeitungen. Mr. Willens ertrunken aufgefunden.
    Die schrieben, er hatte Beulen, weil er mit dem Kopf aufs Lenkrad geschlagen war. Die schrieben, als er ins Wasser fiel, war er noch am Leben. Zum Totlachen.

IV. Lügen
    Enid blieb die ganze Nacht über wach – sie versuchte gar nicht erst, zu schlafen. Sie konnte sich nicht in Mrs. Quinns Zimmer hinlegen. Sie saß stundenlang in der Küche. Es strengte sie an, sich zu bewegen, sogar, sich eine Tasse Tee zu machen oder ins Badezimmer zu gehen. Jede Bewegung ihres Körpers schüttelte durcheinander, was sie erfahren hatte, hinderte sie, es im Kopf zu ordnen und sich daran zu gewöhnen. Sie hatte sich nicht ausgekleidet oder das Haar gelöst, und als sie sich die Zähne putzte, kam ihr das mühsam und fremd vor. Das Mondlicht fiel durchs Küchenfenster – sie saß im Dunkeln –, und sie sah zu, wie auf dem Linoleum ein Lichtfleck durch die Nacht wanderte und verschwand. Sie war überrascht, als er verschwunden war, und dann, als die Vögel erwachten und der neue Tag anbrach. Die Nacht war ihr sehr lang vorgekommen, und dann wieder zu kurz, denn sie war zu keiner Entscheidung gelangt.
    Sie erhob sich steif und schloss die Tür auf und setzte sich im heraufdämmernden Licht auf die Veranda. Sogar diese Bewegungen verkeilten ihre Gedanken. Sie musste sie wieder sortieren und auf zwei Seiten einordnen. Was geschehen war – oder was angeblich geschehen war – auf der einen Seite. Was nun zu tun war auf der anderen. Was nun zu tun war – das wollte keine klare Gestalt annehmen.
    Die Kühe waren auf eine andere Weide getrieben worden und standen nicht mehr auf der kleinen Wiese zwischen dem Haus und dem Fluss. Enid konnte das Gatter öffnen, wenn sie wollte, und in diese Richtung laufen. Sie wusste, sie müsste eigentlich ins Haus gehen und nach Mrs. Quinn sehen. Aber sie tat es nicht, sondern entriegelte das Gatter.
    Die Kühe hatten nicht alles abgeweidet.

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