Die Liebe einer Frau
Wohnanlage in Arizona lebten, und bei Deborahs Eltern – die ungefähr in Kents Alter waren – in Santa Barbara. Jetzt fuhren sie die Westküste hoch, heim nach Vancouver, ließen sich aber jeden Tag Zeit, um Kent nicht übermäßig zu ermüden.
Die Dünen waren mit Gras bewachsen. Sie sahen wie ganz normale Hügel aus, bis auf entblößte sandige Schultern, die der Landschaft etwas Verspieltes gaben. Das Werk eines Kindes, aufgequollen ins Gigantische.
Die Straße endete bei dem Haus, das ihnen beschrieben worden war. Gar nicht zu verfehlen. Da war das Schild – pazifik-tanzschule. Und Sonjes Name, und darunter ein Schild: zu verkaufen. Eine alte Frau machte sich mit einer Heckenschere an einem der Sträucher im Garten zu schaffen.
Also lebte Cottars Mutter immer noch. Aber dann fiel Kent ein, dass Cottars Mutter blind war. Deshalb musste ja damals jemand zu ihr ziehen, als Cottars Vater starb.
Was trieb sie also mit der Heckenschere, wenn sie blind war?
Er hatte den üblichen Fehler begangen, sich nicht klar zu machen, wie viele Jahre – Jahrzehnte – vergangen waren. Und wie steinalt die Mutter inzwischen sein musste. Wie alt Sonje sein musste, wie alt er selbst war. Denn es war Sonje, und anfangs erkannte sie ihn auch nicht. Sie bückte sich, um die Heckenschere in den Boden zu spießen, sie wischte sich die Hände an ihren Jeans ab. Er spürte die Steifheit ihrer Bewegungen in den eigenen Gelenken. Ihr Haar war weiß und spärlich, es wehte in der leichten Meeresbrise, die zwischen den Dünen ihren Weg hierher fand. Die feste Fleischhülle um ihre Knochen war verschwunden. Sie war immer flachbrüstig gewesen, aber in der Taille nicht so dünn. Breiter Rücken, breites Gesicht, ein Mädchen nordischen Typs. Obwohl ihr Vorname nicht daher stammte – er erinnerte sich an eine Geschichte, dass sie den Namen Sonja erhalten hatte, weil ihre Mutter die Filme mit Sonja Henie liebte. Sie änderte von sich aus die Schreibweise und verachtete die Oberflächlichkeit ihrer Mutter. Alle verachteten sie damals ihre Eltern für irgendetwas.
Er konnte in der grellen Sonne ihr Gesicht nicht genau erkennen. Aber er sah mehrere glänzende, silberweiße Flecke, wo wahrscheinlich Hautkrebs entfernt worden war.
»Also Kent«, sagte sie. »So was Komisches. Ich dachte, du wärst jemand, der mein Haus kaufen will. Und das ist Noelle?«
Nun hatte auch sie ihren Fehler begangen.
Deborah war sogar noch ein Jahr jünger als Noelle. Aber sie hatte nichts von einem Püppchen an sich. Kent hatte sie nach seiner ersten Operation kennengelernt. Da war er Witwer und sie eine unverheiratete Physiotherapeutin. Eine abgeklärte, ruhige Frau, die der Mode und der Ironie misstraute – sie trug ihr Haar zu einem langen Zopf geflochten. Sie hatte ihm Yoga beigebracht, wie auch die vorgeschriebenen Übungen, und jetzt sorgte sie dafür, dass er Vitamine nahm und Ginseng. Sie war taktvoll und frei von Neugier bis hin zur Gleichgültigkeit. Vielleicht war es für eine Frau ihrer Generation selbstverständlich, dass jeder eine reich bevölkerte und unübertragbare Vergangenheit besaß.
Sonje bat ihre Besucher ins Haus. Deborah sagte, sie werde die beiden ihren Erinnerungen überlassen – sie wolle zu einem Naturkostladen (Sonje sagte ihr, wo einer war) und einen Strandspaziergang machen.
Als Erstes fiel Kent an dem Haus auf, wie kalt es darin war. An einem strahlenden Sommertag. Aber Häuser an der Nordwestküste sind selten so warm, wie sie aussehen – man braucht nur aus der Sonne zu gehen, und sofort spürt man einen klammen Hauch. Nebelschwaden und regnerische Winterkälte mussten seit langer Zeit fast ohne Gegenwehr in dieses Haus eingedrungen sein. Es war ein großer, aus Holz erbauter Bungalow, stark reparaturbedürftig, aber nicht schmucklos mit seiner Veranda und seinen Dachgauben. In West Vancouver, wo Kent immer noch lebte, hatte es früher viele solche Häuser gegeben. Aber die meisten waren mit Abrissgenehmigung verkauft worden.
Die beiden großen, ineinander übergehenden Wohnzimmer standen bis auf ein Klavier leer. Der Fußboden war in der Mitte grau abgetreten und in den Ecken schwarzbraun gebohnert. An einer Wand war eine Ballettstange angebracht und gegenüber ein staubiger Spiegel, in dem er zwei hagere, weißhaarige Gestalten vorbeigehen sah. Sonje sagte, dass sie versuchte, das Haus zu verkaufen – das sah man ja an dem Schild –, und da dieser Teil als Tanzstudio eingerichtet worden war, fand sie, sie konnte es
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