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Die Liebe einer Frau

Die Liebe einer Frau

Titel: Die Liebe einer Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Kents Aussehen war in Sonjes Augen nur ein läppischer Trostpreis.
    Sie hatte an jenem Abend mit dem Rücken an der Wand gesessen und ein Kissen umklammert. Sie hatte sich angewöhnt, ein Kissen an die Stelle zu halten, wo das Baby strampelte. Das Kissen war ausgeblichen und staubig, wie alles in Sonjes Haus (sie und Cottar hatten es möbliert gemietet). Sein Muster blauer Blüten und Blätter sah inzwischen silbrig aus. Kath heftete den Blick darauf, während Kent von den anderen in die Enge getrieben wurde und es nicht einmal merkte. Der junge Mann redete auf ihn mit der melodramatischen Wut eines Sohnes gegenüber seinem Vater ein, und Cottar sprach mit der strapazierten Geduld eines Lehrers gegenüber einem seiner Schüler. Der ältere Mann amüsierte sich verbittert, und die Frau war voll moralischen Abscheus, als wäre Kent persönlich verantwortlich für Hiroshima und asiatische Mädchen, die in zugesperrten Fabriken verbrannten, für jede üble Lüge und hohltönende Heuchelei. Und Kent forderte das meiste davon heraus, war Kaths Eindruck. Sie hatte etwas Ähnliches befürchtet, als sie sein Hemd mit Krawatte sah, und beschlossen, Jeans anzuziehen und nicht den schicklichen Umstandsrock. Und als sie dann dort war, musste sie es aussitzen, das Kissen hierhin und dorthin verdrehen, um das silbrige Glitzern einzufangen.
    Alle im Raum waren sich in allem so sicher. Wenn sie eine kurze Atempause einlegten, dann nur, um aus einem nie versiegenden Quell reiner Tugend, reiner Gewissheit zu schöpfen.
    Außer vielleicht Sonje. Sonje sagte nichts. Aber Sonjes Quell war Cottar; er war ihre Gewissheit. Sie stand auf, um noch von dem Curry anzubieten, sie sprach in eine der kurzen, wuterfüllten Schweigepausen.
    »Offenbar wollte niemand Kokosnuss.«
    »Ach, Sonje, spielst du die taktvolle Gastgeberin?«, fragte die ältere Frau. »Wie jemand bei Virginia Woolf?«
    Wie es schien, stand Virginia Woolf also auch in Misskredit. Da war so vieles, was Kath nicht verstand. Aber zumindest wusste sie, dass es da war; sie erklärte es nicht kurzerhand für Unsinn.
    Trotzdem wünschte sie, ihre Fruchtblase würde platzen. Ihr war alles recht, Hauptsache, es brachte Erlösung. Wenn sie aufsprang und eine Pfütze unter sich machte, mussten sie aufhören.
    Hinterher schien Kent vom Verlauf des Abends überhaupt nicht verunsichert zu sein. Zumal er meinte, gewonnen zu haben. »Das sind alles Linke, die müssen so reden«, sagte er. »Das ist das Einzige, was sie machen können.«
    Kath wollte auf keinen Fall weiter über Politik reden, deshalb wechselte sie das Thema und erzählte ihm, dass das ältere Paar mit Sonje und Cottar in einer Kommune zusammengelebt hatte. Mit noch einem weiteren Paar, das inzwischen weggezogen war. Und es hatte regelmäßiger Partnertausch stattgefunden. Der ältere Mann hatte zudem noch eine Geliebte, die nicht in der Kommune wohnte, aber zeitweilig am Partnertausch teilnahm.
    Kent fragte: »Du willst sagen, junge Männer sind mit der Alten ins Bett gestiegen? Die muss doch fünfzig sein.«
    Kath sagte: »Cottar ist achtunddreißig.«
    »Trotzdem«, sagte Kent. »Ist ja ekelhaft.«
    Aber Kath fand die Vorstellung von solchem vertraglich festgesetzten und obligatorischen Beischlaf mindestens so erotisierend wie ekelhaft. Sich gehorsam und schuldfrei jedwedem hinzugeben, der laut Liste an der Reihe war – das war wie Tempelprostitution. Lust im Gewande der Pflicht. Daran zu denken versetzte sie in tiefe, obszöne Erregung.
    Sonje hatte es nicht in Erregung versetzt. Sie hatte keinerlei sexuelle Befreiung erlebt. Cottar fragte sie immer danach, wenn sie zu ihm zurückkam, und sie musste mit Nein antworten. Er war enttäuscht, und sie war um seinetwillen enttäuscht. Er erklärte ihr, dass sie zu sehr auf eine Person fixiert und zu sehr in der Vorstellung von sexuellem Eigentum befangen war, und sie sah ein, dass er recht hatte.
    »Ich weiß, er denkt, wenn ich ihn mehr liebte, könnte ich es besser«, sagte sie. »Dabei liebe ich ihn bis zum Wahnsinn.«
    Trotz der verführerischen Gedanken, die ihr in den Kopf kamen, war Kath überzeugt, dass sie einzig mit Kent schlafen konnte. Sex war wie etwas, das sie miteinander erfunden hatten. Es mit jemand anderem zu versuchen hieße, auf einen anderen Stromkreis umzuschalten – ihr ganzes Leben würde ihr um die Ohren fliegen. Und doch konnte sie nicht von sich sagen: Ich liebe Kent bis zum Wahnsinn.
     
    Als sie am Strand entlang von Monicas Haus zu Sonjes Haus

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