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Die Liebe ist eine Insel

Die Liebe ist eine Insel

Titel: Die Liebe ist eine Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudie Gallay
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glauben, alle anderen Fotos seien als Vorbereitung auf dieses gemacht worden, eine alte Frau, die auf dem Bettrand sitzt, mit Möbeln um sich herum, dicht an dicht, stumm.
    Julie nähert sich.
    Sie sagt zu Marie, sie hätte Isabelle in einem ihrer Kleider aufnehmen sollen.
    »Strass und Pailletten, sie hat wunderschöne!«
    Odon kommt zu ihnen. Diese Arme, dieser Bauch, die Wölbung ihrer abgemagerten Schultern, das bleiche Gesicht. Verwirrt betrachtet er das Foto. Dieses Gesicht ist das Gesicht aller Lebenden, die auf den Tod warten. Es ist die Arbeit der Zeit, sie löscht Teile aus, stumpft die Wünsche ab, verändert die Gefühle. Eine furchtbare Verwüstung.
    »Hast du es Isabelle gezeigt?«
    »Nein.«
    Er schweigt. Die Lippen geschlossen, trocken.
    Schönheit kann wehtun. Sie kann Angst machen.
    Er entfernt eine Heftzwecke, eine zweite, seine Bewegungen sind langsam. Die Hand schwer.
    »Du kannst ein solches Foto nicht einfach ausstellen, ohne dass sie es weiß.«
    Er sieht Marie an.
    »Du musst sie fragen, verstehst du?«

A ls die Jogar die Bühne verlässt, bleibt sie kurz stehen, das macht sie immer so, bevor sie abgeht, sie dreht sich um und wirft einen letzten Blick ins Publikum.
    Manche Zuschauer sitzen noch. Andere erheben sich. Man lächelt ihr zu. Schon wendet man sich ab. Sie verlässt die Bühne stets bei geöffnetem Vorhang.
    Auch morgen wird sie da sein, im Saal ein anderes Publikum, aber die Geste wird die gleiche sein, der gleiche geprobte Abschied.
    Ein großer Mann mit gebeugtem Rücken aus der fünften Reihe mischt sich unter die Menge. Weißes Hemd, anthrazitgraue Jacke. Ihn blickt sie an.
    Sie folgt ihm mit den Augen.
    Warum er und nicht ein anderer? Weil er groß ist? Die Gestalt ist ihr vertraut.
    Sie starrt auf den Nacken.
    Das Haar ein wenig schütter, die Schultern vielleicht etwas schmaler. Der Mann ist allein. Er geht durch den Mittelgang und ohne Eile weiter zu den Flügeltüren des Ausgangs.
    Im Saal brandet der Applaus wieder auf, weil sie immer noch da ist. Sie lächelt.
    Der Mann geht durch die Tür, sie hebt die Hand. Er dreht sich nicht um. Das Publikum applaudiert. Der Beifall folgt ihr.
    Auf dem Gang signiert sie Fotos.
    Sie betritt ihre Garderobe.
    Phil Nans küsst sie.
    Pablo kommt hinzu.
    »Sie waren wunderbar, meine Dunkelhaarige!«
    Sie geht zum Fenster, blickt auf die Straße, den Bürgersteig, die einsame Gestalt ihres Vaters, der sich entfernt.
    »Aber ich bin bei der Roseman Bridge hängengeblieben«, murmelt sie, »an dieser Stelle bleibe ich immer hängen.«

J eff ist hingefallen, ein Sturz auf der Straße, verursacht durch seine Flügel. Er erhebt sich. Der Leierkasten ist kaputt, sosehr er sich auch bemüht, die Walzen im Innern haben sich verklemmt.
    Er rempelt die Leute an. Diejenigen, die ihn aus der Nähe betrachten, sehen, dass er Tränen in den Augen hat. Sein herabhängender Flügel verleiht ihm den Gang eines Albatros.
    Es ist früher Nachmittag. Die Jungs der Großen Odile sehen ihn mit seinen Flügeln ankommen.
    Er setzt sich zu ihnen. Erzählt ihnen die Geschichte von Ikarus, einem Sonderling, der fliegen wollte wie die Vögel.
    Als es Abend wird, geht er in die Stadt zurück und sammelt die Kippen vom Bürgersteig auf. Er steckt sie in eine Streichholzschachtel. Als die Schachtel voll ist, kehrt er zur Place de l’Horloge zurück und sucht sich eine Stelle, die gut sichtbar ist.
    Er nimmt eine erste Kippe heraus. Touristen bleiben stehen. Etwa ein Dutzend. Jeff steckt die Kippe in den Mund. Kaut sie. Der Tabakgeschmack widert ihn an. Er schluckt sie hinunter. Nimmt eine zweite Kippe und wiederholt den Vorgang. Eine Gruppe von Schaulustigen bildet sich um ihn herum. Der Tabak haftet an seiner Zunge, die Spucke ist wie Lava.
    Ein Kind fragt, warum macht der Monsieur das?
    Jeff blickt auf. Die Münzen prasseln in die Schirmmütze wie auf dem Höhepunkt seiner Flügelnummer. Er nimmt eine weitere Kippe. Betrachtet die Münzen und fragt sich, ob der Himmel über dem Michigansee blau ist.
    Julie, Damien und Greg sitzen auf der Bank. Marie ebenfalls. Sie haben Jeff vorbeigehen sehen.
    Julie erzählt das Geheimnis der Schuld, die ihn mit Odile verbindet.
    »Sobald er ihr alles zurückgezahlt hat, steigt er in einen Zug und fährt nach Amerika.«
    »Man braucht mehr als einen Zug, um so weit zu reisen«, sagt Marie.
    Mehr als einen Tag auch. Manchmal reicht ein Leben nicht.
    Die weiten Reisen machen Angst, wenn man nicht daran gewöhnt ist. Man plant sie.

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