Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes
neben der Balkontür Platz genommen hatte. Sie hatte die Vorderpfoten eingerollt, sodass sie ein wenig wie ein Schlauchboot aussah, und fixierte ihn mit scheinbar schläfrigen Augen. Vielleicht doch besser wegsehen. Höflichkeit durch Ignorieren.
Das erste Wort des Gesangs löste sich in ein erleichterndes -ruuunt auf, und das nächste Wort, omnes , sollte beginnen. Bevor es so weit kam, schaltete Kirill das Gerät aus.
Das Mahlstädter Kind war vor zwei Monaten in die Stadt gekommen. Nach einigem Hin und Her (verschiedene Institutionen erhoben Anspruch auf das Kunstwerk)erhielt es seinen endgültigen Aufstellungsort am Ende einer kurzen Sackgasse zwischen zwei verlassenen Gebäuden am Rand des Parks. Die Gebäude waren längst für den Abriss bestimmt, doch nun wurde dieses Vorhaben bis auf weiteres vertagt. Am Anfang der Sackgasse befand sich eine natürliche, sockelartige Erhebung. Niemand erinnerte sich, wofür dieser Absatz einst errichtet worden war. Jeder, der in die Straße einbiegen wollte (ein Auto hatte dazu gar nicht die Möglichkeit), musste gewissermaßen eine Treppenstufe hinaufsteigen. Es war nur eine einzige Stufe, aber trotzdem wirkte sie wie eine Barriere. Hatte man sie hinter sich, führte der schmale Gang einige Meter lang direkt auf die Skulptur zu. Man näherte sich ihr abgeschirmt von Straßenlärm und Wind, links und rechts die Scheuklappen der alten Häuserwände, auf denen schon einige provisorische Markierungen für die bevorstehenden Sprengungsarbeiten angebracht worden waren.
Entlang den eng stehenden Wänden lief man auf die Skulptur zu, ohne in Versuchung zu kommen, sich ständig umzublicken oder nach etwas anderem Ausschau zu halten. Menschenansammlungen fanden vor ihr, wie die Zeitungen mit einigem Ressentiment gegen die Stadtverwaltung feststellten, nur dicht gedrängt Platz.
Das berühmteste work in progress des Landes war die Arbeit eines inzwischen dem Namen nach überall bekannten, aber völlig zurückgezogen lebenden Bildhauers. Als sich der erste Ruhm einstellte und Universitäten und kulturelle Institutionen ihn immer häufiger zu Podiumsdiskussionen und Symposien einluden, verlegte er seinen Wohnsitz aufs Land.
Das einzige bekannte Statement des Künstlers zu seinemWerk war eine Rede, die er damals am Marktplatz seiner Heimatstadt gehalten hatte, am Tag, als die Figur zum ersten Mal öffentlich aufgestellt wurde. Die Rede wurde immer aufs Neue in allen Zeitungen abgedruckt, wenn das Kunstwerk seinen Standort wechselte.
Die Gründe für seinen Ruhm und den seiner Plastik Ein Kind , allgemein als Mahlstädter Kind bezeichnet, dürften dem Bildhauer allerdings vom ersten Moment an klar gewesen sein, da er sein Kunstwerk mit aller Sorgfalt auf eine breite Wirkung ausgerichtet hatte: Aus einem Lehmgemisch und einem biegsamen Skelett aus Feuchtigkeit spendenden Röhrchen modellierte er ein großes sitzendes Kind, das den Kopf gesenkt hielt, als hätte es ihn gerade noch angesichts einer bestimmten Absurdität ungläubig geschüttelt. Ein kleines Loch im Schädeldach des Kindes erlaubte es, dem Skelett Wasser einzufüllen und so die Figur weich und formbar zu halten. Eine kleine, schwungvoll beschriebene Tafel war ihr als eine Art Gebrauchsanweisung beigegeben, die besagte, dass kein Künstler jemals das Monopol über die Vollendung seines Kunstwerks beanspruchen dürfe und jeder an Kunst interessierte Mensch dazu aufgefordert sei, die Physiognomie des Kindes mit Schlägen, Tritten, Werkzeugen oder, falls notwendig, sogar mit Waffen in die allgemein als vollkommen empfundene Form eines Kindes zu bringen.
Kirill saß in dem großen, aufgeplusterten Lehnsessel. Ein Bett wollte er heute Nacht nicht beziehen, einerseits, weil er fremde Betten hasste, andererseits, weil ersowieso nicht vorhatte zu schlafen. Zumindest nicht in großem Stil. Er würde einfach die Nacht in dem gemütlichen Sessel verbringen, eine Katzendecke um die Beine geschlungen, und abwechselnd in den Fernseher oder durch die breite Glasluke in der Decke schauen, die auf gewitzte Art das Glas der Balkontüren fortsetzte. Die Stadt hatte in den letzten, etwas kühleren Tagen vergessen, die übliche Dunstglocke aufzusetzen, und deshalb sah man direkt auf einen nackten Sternenhimmel. Sogar die Milchstraße war zu sehen, deren Teil dieser Planet, die Wohnung und Kirill selbst waren. Kein Mensch weiß, wohin diese Galaxie unterwegs ist.
Der Kater Pero patrouillierte noch einmal an ihm vorbei. Er erfasste die
Weitere Kostenlose Bücher