Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes
wie immer … hinter seinem Schreibtisch gesessen und hat andauernd abwechselnd auf seine Uhr und an die Decke geschaut, weil ihm die Situation so unangenehm war. So peinlich. Aber ich hab’s ihm gezeigt. Er hat sich sogar bei mir entschuldigt.
– Nein! Der Wolf? Bei dir entschuldigt?
– Das gibt’s nicht! Das hat’s noch nie gegeben!, sagte Florian Graf.
Die Männer redeten alle durcheinander. Altenberger konnte sich nicht beherrschen und brach in gackerndes Gelächter aus.
– Ja, sagte Franz Lukas. Er hat gesagt: Es tut mir leid. Laut und deutlich. Und das nicht nur einmal. Zweimal.
Er zeigte das siegreiche V zweier Finger.
– Wahnsinn!
– Da kann man wirklich nur sagen: ein Hoch!
Die Männer hielten ihre Bierflaschen in die Höhe, drei Mal hintereinander. Hätten sie anstatt der Bierflaschen einen Menschen in die Luft gestemmt, so wie in alten Zeiten, wäre er vermutlich bis zur Decke geflogen. Franz lehnte sich auf seinem hölzernen Gasthausstuhl zurück und blickte nach oben. Man konnte ihm ansehen, dass er sich selbst beim Fliegen beobachtete, dort oben, zwischen den Lampenschirmen.
Nach einigen Minuten gesellte sich eine Frau zu ihnen, ihre Kleider waren vom Schneeregen nass geworden, und ihre neue Kurzhaarfrisur (der Haarknoten, den sie bisher immer getragen hatte, war ihr lästig geworden) war zerzaust und hatte die reizvolle Ähnlichkeit mit einer Artischocke verloren.
– Hab ich was verpasst?, fragte sie die Männer, nachdem sie sich neben Franz gesetzt und zweimal mit der flachen Hand auf sein Knie geschlagen hatte. Sagt schon, hab ich was Wichtiges verpasst?
Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes:
Do you know what it’s like to care too much
’bout someone that you never gonna get to touch
Hey man now you’re really living
Eels
– Und du bist wirklich so lieb und passt auf die Wohnung auf, während ich weg bin?
– Ja, deswegen bin ich ja da.
– Und du hast alles?
– Was alles?
– Was man so braucht.
– Mineralwasser habe ich, ja, falls du das meinst, und diese komischen kleinen Kekse. Mehr brauche ich eigentlich nicht. Und in deinem Zimmer steht ja ein Feuerlöscher.
– Tatsächlich?
– Auf deinem Bücherschrank, ganz oben.
– Der Hydrant? Ja, mag sein, vielleicht ist das ein Feuerlöscher. Ich glaube aber nicht, dass der Wasser gibt …
– Es gibt ja auch noch Leitungswasser.
– Ja.
– Und Mineralwasser.
– Ja … Weißt du, Kirill, ich bin irgendwie nervös.
– Wieso denn?
– Ich weiß nicht. Ich habe das noch nie gemacht. Bistdu sicher, dass du alles hast, ich meine, weil die Wohnung ja gewissermaßen fremd ist für dich … und die Katze, vielleicht ist es unverantwortlich, wenn ich sie einfach so eine Nacht allein lasse.
– Aber du lässt sie ja überhaupt nicht allein, es ist doch jemand bei ihr.
– Bei ihm.
– Ja, ich weiß, Magister Perotinus Magnus.
– Einfach Pero, darauf hört er, glaube ich.
– Katzen hören auf gar nichts.
– Aber er kommt immer, wenn er meine Stimme hört. Sogar, wenn er geschlafen hat. Du kannst dir seine Anhänglichkeit gar nicht vorstellen.
– Er wird es schon aushalten, er hat ja mich.
– Ja, er schnurrt immer, wenn du ihn nimmst. Obwohl ich auch gehört habe, dass Katzen nicht nur dann schnurren, wenn sie es angenehm haben, sondern auch, wenn sie in Gefahr sind. Oder wenn sie im Sterben liegen.
– Kann sein, aber er wird schon merken, dass ich keine Gefahr darstelle. Ich verhalte mich still, sitze wahrscheinlich die ganze Nacht vor dem Fernseher und schaufle diese Kekse in mich hinein – wie heißen die?
– Limiti.
– Genau. Den dummen Namen merke ich mir nie. Hast du alles?
– Die Jacke ist schwarz, so soll es wohl sein, damit sieht mich nicht gleich jeder. Handschuhe habe ich, sogar zwei Paar, falls einer kaputtgeht … Die Kette habe ich hier hinten.
– Eine Kette nimmst du auch mit?
– Ist das zu extrem? Findest du das irgendwie …
– Nein, ist ja deine Entscheidung. Solange du damit nicht auf einen Menschen losgehst.
– Das würde ich nie tun! Warum sagen das immer alle im gleichen Atemzug. Immer dieses: Solange ich kein wirkliches Kind, solange ich keinen wirklichen Menschen, solange ich niemanden wirklich umbringe –
– Die Leute machen anderen eben gerne ein schlechtes Gewissen.
– Das sagt sich leicht. Manchmal würde ich gern so über allen Dingen stehen wie du, Kirill.
– Stimmt gar nicht, das tu ich doch nicht.
– Oh doch.
– Na ja, ich finde es auf
Weitere Kostenlose Bücher