Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Titel: Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Setz Clemens J.
Vom Netzwerk:
es in die Höhe: einen Stift. Er versuchte zu schreiben, aber es ging nicht ohne Unterlage. Das Papier war zu weich.
    – Wärst du so freundlich, sagte er heiter-ungeduldig, und seine Hand beschrieb einen liegenden Halbkreis.
    Daniel hatte verstanden. Er entschuldigte sich leise, stieg von der Waage und drehte sich um, sodass Greith seinen Rücken als Schreibunterlage verwenden konnte. Er spürte den kurzen Kreiseltanz der Kugelschreiberspitze auf seiner Haut. Als die Zahl schließlich eingetragen war, rannte Daniel, ohne Licht zu machen, durch das Stiegenhaus hinauf in seine Wohnung.
    Seine Tochter war gerade dabei, sich für die Schule anzuziehen. Er strich ihr über den Kopf und murmelte etwas Ermutigendes.
    Als er endlich in der Wanne lag, unter einem knisternden Gebirge aus Badeschaum, hatte er das Gefühl, gerade noch einmal davongekommen zu sein. Später rief er im Büro an und entschuldigte sich viele Male,bis man ihm versicherte, er werde nicht dringend benötigt.
11
    Daniel öffnete die Augen. Er hatte geträumt, er sehe, wie sein eigener Schatten über Föhrenwipfel geisterte. Er saß in einem Sessellift und steuerte einer Bergspitze zu, aus der ein riesiges Besucherzentrum wuchs.
    Über das merkwürdige Traumbild grübelnd, zog er sich an, ohne daran zu denken, dass heute Sonntag war. Erst als seine linke Hand in den kühlen Ärmel seines Sakkos tauchte und seine Armbanduhr für einen Moment am Innenfutter hängen blieb, fiel ihm der träge Lichtschein auf, der aus dem Kinderzimmer drang. Die Vorhänge waren noch zugezogen. Seine Tochter schlief noch – er klatschte sich mit der flachen Hand auf die Stirn, dann streifte er mit einem entschuldigenden Lächeln das Sakko ab und hängte es auf den Kleiderbügel zurück.
    Daniel ging in die Küche. Stühle, ein schwerer Tisch, eine Brotschneidemaschine, eine einsame Kaffeetasse – alles schien zu schlafen. Nur er war wach.
    Warum war er überhaupt so früh aufgestanden? Er war sonntags sonst immer der Letzte und ärgerte sich, wenn irgendetwas ihn davon abhielt, länger im Bett zu bleiben. Unsinnigerweise klopfte sein Herz.
    Draußen regnete es.
    Er zog sich wieder an und ging in den Garten hinunter.
    Im Schutz der alten Hoftür betrachtete er den Nieselregen, dann trat er, ohne den Schirm aufzuspannen, insFreie und ließ sich nass werden. Die Waage stand im Regen, er prasselte auf ihr kreisrundes Haupt und weichte die Erde unter ihr auf, sodass man hoffen konnte, sie würde bald versinken.
    Er sah, dass irgendetwas verändert war, und kniff die Augen zusammen. Aber wirklich scharf wurde das Bild nicht, und er musste näher rangehen. Etwas war anders, aber er erkannte nicht gleich, was es war. Die Waage stand da wie immer, das breite Uhrengesicht glotzte bedrohlich ins Nichts, und der massive Körper wirkte tonnenschwer und unverrückbar, wie ein vor vielen Jahrzehnten stehengebliebenes Pendel.
    War sie über Nacht vielleicht ein wenig größer geworden? Nein, das war es nicht.
    Zuerst dachte Daniel, es liege an seinen Augen, dann sah er es: An der Waage fehlte etwas. Es war ein Ohr, das linke – dem Uhrengesicht mit dem herrischen, zuckenden Zeiger in der Mitte fehlte tatsächlich das linke Ohr.
    Ihm wurde heiß. Keine Schranken mehr, dachte er verwirrt.
    Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn und bemerkte, dass er zu schwitzen begonnen hatte. Er trat näher an die Waage heran, um sich die Veränderung genau anzusehen. Wo die Münzautomatik befestigt gewesen war, mit der man die Waage zum Leben erwecken konnte, befanden sich jetzt drei schwarze Löcher für drei vermutlich längst in den Müll geworfene Schrauben.
    Sein rechter Fuß traute sich, trat vor und machte die Probe. Der Zeiger, sonderbar leichtfüßig und befreit, machte bei der ersten Berührung einen freudigen Sprung, als zöge ihn ein unsichtbarer Faden.
    – Daniel!
    Seine Frau schaute aus dem Fenster zu ihm herunter, ihr Gesicht war unschuldige Verwunderung und Überraschung, ein unbeschwertes Sonntagsgesicht. Er konnte es nicht mehr ertragen, also sagte er:
    – Mach das Fenster zu!
    – Warum? Was ist denn?
    Sie war wieder außer Atem, bemerkte er. Und aus irgendeinem Grund ertrug er diesen Anblick nicht mehr und rief:
    – Mach zu! Mach zu!
    Er wedelte mit beiden Armen, um sie zu verscheuchen. Aber sie blieb, wo sie war, nur ihr Gesichtsausdruck und ihre Körperhaltung hatten sich verändert.
    Daniel spürte, wie sich die Blicke der gesamten Nachbarschaft auf seiner linken Wange

Weitere Kostenlose Bücher