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Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Titel: Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Setz Clemens J.
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wichtigen Termin. Zusammen mit den anderen drei Frauen, die das Marketingbüro, bei dem sie angestellt waren, immer als Erstes mit potenziellen Kunden verhandeln ließ, stand sie im Besprechungszimmer 2. Sie bildeten einen kleinen, respektvollen Halbkreis, während der tschechische Geschäftsmann seine Visitenkarten verteilte. Martina und die anderen erwiderten die Geste. Als sie ihre Geldtasche aufmachte, verbreitete sich ein beißender Geruch im Raum, wie von schlecht gewordenem Essig. Auch die restlichen Karten waren von Geschwüren überzogen, auf einigen gediehen sogar kleineBlasen, die mit einer gelblichen Flüssigkeit gefüllt waren.
    – Verdammt noch mal …
    Die anderen schauten sie an. Martina hob mit einem entschuldigenden Lächeln die Karten in die Höhe, so dass alle sehen konnten, was passiert war.
    – Da muss irgendwas in der Druckerei schiefgegangen sein, sagte sie. Entschuldigung.
    Ihre Kolleginnen traten neugierig näher, bestaunten die beschädigten Karten, nahmen sie in die Hand und hielten sie gegen das Licht oder rochen vorsichtig daran und zuckten angeekelt zurück.
    – Du solltest dir so schnell wie möglich neue besorgen.
    – Ja, natürlich, sagte Martina.
    Ihr war es sehr unangenehm, dass alle sie anstarrten und ihre Visitenkarten begutachteten. Sie hätte sie ihnen am liebsten aus der Hand gerissen. Martina machte einen Schritt auf sie zu, streckte ihren rechten Arm aus, an dem Cat baumelte, aber in diesem Moment begannen sie, die verunstalteten Karten untereinander zu vergleichen, als wären es Sammelkarten oder seltene Schmetterlinge.
    – Die hier hat eine Beule, sagte Gabriele.
    – Nichts gegen das Loch hier, sagte Felicitas. Wie mit Säure reingefressen.
    Martina blickte sich hilflos nach dem tschechischen Gast um, der als Einziger die Finger von den Karten gelassen hatte und auch keine Anstalten machte, sie untersuchen zu wollen.
    – Sie sollten wegwerfen, sagte er mit seiner tiefen, sonoren Stimme zu Martina.
    Martina nickte und gestikulierte entschuldigend in Richtung ihrer Kolleginnen. Gabriele versuchte gerade, den Namenszug abzulesen, der durch die Beule verzerrt worden war.
    – Mar Tl Er, stotterte sie und ließ die Karte aus Versehen auf den Boden fallen.
    Dabei brach die Beule auf, und wieder verbreitete sich der beißende Geruch im Zimmer. Die Frauen lachten, hielten sich die Nase zu und deuteten auf Gabriele, als käme der Geruch von ihr. Martina wäre am liebsten im Boden versunken.
    – Okay, gebt sie wieder her, sagte sie leise.
    – Aber was willst du denn noch mit denen?, fragte Felicitas angewidert. Die sind doch bestimmt giftig.
    – Wegwerfen natürlich, sagte Martina.
    – Würde ich an deiner Stelle auch, meine Liebe! Aber was hast du denn mit ihnen angestellt, dass die so geworden sind?
    – Möglich, dass Material ist schlecht gemacht, sagte der tschechische Investor etwas ungeduldig.
    – Ich habe überhaupt nichts gemacht, sagte Martina.
    Felicitas schaute sie ungläubig an, dann drehte sie sich um, weil Gabriele zu lachen begonnen hatte. Der Grund war eine Visitenkarte, auf der ein Geschwür in Form eines männlichen Glieds wuchs. Es dauerte eine Weile, bis Martina verstand, wie man das Gebilde ansehen musste, um es zu erkennen. Der tschechische Geschäftsmann stand etwas abseits und studierte das schwarzweiße M.C.-Escher-Poster, das in dem Besprechungszimmer hing, Treppauf und Treppab.
    In der Mittagspause mied Martina ihre Kolleginnen, sie holte sich eine Flasche Mineralwasser aus dem Getränkeautomaten im Foyer und ging mit dieser und dem Thunfischsandwich, das sie von zuhause mitgenommen hatte, auf die Toilette. Das Erste, was sie dort tat, war, die übrig gebliebenen Visitenkarten in winzig kleine Stücke zu zerreißen und im Klo runterzuspülen. Dann wusch sie sich die Hände, kontrollierte jeden Zentimeter ihres Portemonnaies und ihrer Handtasche und zündete ein Streichholz gegen den entstandenen sauren Geruch an.
    Obwohl andauernd Frauen hereinkamen und den Raum mit ihren widerlichen Geräuschen erfüllten, mochte sie diesen Ort, er wurde drei Mal täglich von einer fachkundigen Reinigungskraft geputzt und desinfiziert, sodass alle Oberflächen, auch solche, die in ständigem Kontakt mit Exkrementen waren, glänzten, als gäbe es auf der Welt so etwas wie Verunreinigung gar nicht. Nachdem sie die Tür ihrer Kabine mithilfe des kleinen, babyschnullerförmigen Drehknopfes verriegelt hatte, setzte sie sich auf den heruntergeklappten, spiegelnd

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