Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes
ein Mann bist, oder … oder du kannst dir heute Nacht einen anderen Platz zum Schlafen suchen, bei irgendeiner deiner –
– Ich kann jetzt nicht reden, ich ruf dich später –
– Nein, leg jetzt bloß nicht auf, du Feigling. Ich will, dass du auf der Stelle hierherkommst! Hast du mich verstanden? Hast du, hast du –
Er drückte ihre Stimme weg, schaltete das Handy aus. Vor Wut zitterten ihm die Finger. Alles falsch, dachte er. Er hätte sie nie heiraten dürfen. Jetzt erst sah er diesen schrecklichen Fehler ein. Er hatte alles falsch gemacht, sein ganzes bisheriges Leben lang, alles, jedes kleinste Detail. Und es war zu spät, um noch etwas zu unternehmen. Er war ein alter Mann, der mit Studentinnen in eine Ausstellung vertrottelt-obszöner Skulpturen ging. Seine Frau hatte Recht, er war tatsächlich kein Mannmehr, nur mehr ein Wrack, das begehrliche Blicke auf dumme, junge Frauen warf.
Die Erkenntnis war so hell, dass sie ihn innerlich blendete. Er schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Was blieb ihm noch übrig? Selbstmord. Dafür fehlte ihm die Kraft. Vielleicht Ehrlichkeit. Totale, kompromisslose Ehrlichkeit. Die Studentin mit den langen, schwarzen Haaren stand direkt vor ihm. Er räusperte sich. Als sie nicht reagierte, tippte er ihr mit dem Zeigefinger auf den Hinterkopf. Sie drehte sich zu ihm um.
Er begann leise zu sprechen. Die Studentin hörte ihm zuerst mit höflichem, dann mit zunehmend entsetztem Gesichtsausdruck zu. Nach und nach versammelten sich auch die anderen Studierenden um ihn.
– Schauen Sie nicht so blöd, zischte er sie an, im Grunde wissen Sie doch ganz genau, wozu ich Sie hierherbestellt habe. Ich will mit Ihnen ficken, das wollen alle Männer hier, vermutlich sogar einige der Frauen. Und das sage ich nicht, weil ich Sie beleidigen oder schockieren will, ich sage es, weil es die Wahrheit ist und wir von Zeit zu Zeit mit der Wahrheit konfrontiert werden müssen. Ohne Wahrheit werden die Menschen langsam zu Statuen oder Zombies oder zu Idioten, was weiß ich. Aber Sie, Sie schauen mich natürlich an, als hätte ich Ihnen gerade eine Ohrfeige gegeben. In Wirklichkeit geht es mir nur darum, einmal in vierhundert Jahren eine vollkommen sinnvolle Aussage zu machen. Allerdings … an Ihrem Gesicht sieht man sofort, dass das unmöglich ist, dass die allersinnvollsten Äußerungen immer zugleich die allersinnlosesten sind. Anstatt sinnvoller Aussagen kann der Mensch nur sinnlosen Unsinn von sich geben, und je sinnloser die Aussage, desto größer die Begeisterungbei seinen Mitmenschen. Das ist ein unerträglicher Zustand, ein zutiefst entwürdigender, wahnsinniger, widernatürlicher Zustand. Im Grunde wäre es besser, wir würden überhaupt nichts mehr sagen und einfach übereinander herfallen wie die Tiere, denn das ist es, was ich ehrlich gesagt am liebsten mit Ihnen machen würde, Sie dumme kleine Studentenpuppe mit Ihren engen Kleidern und Ihrem offenen Knopf an der Bluse und Ihren angemalten Lippen und dem Scheitel und den langen, ungewaschenen Haaren. Sie wissen das ganz genau, und ich weiß das auch, und alle hier wissen das, und trotzdem schauen alle so drein, als würde ich Sie verprügeln. Das ist es, was mit der Welt nicht stimmt. Niemand darf die Wahrheit sagen, jeder muss sich immer nur beherrschen und immer weiter den Schlafwandler spielen. Er darf immer nur wie unter Wasser herumgehen, blind und taub und vollkommen unmündig, und er darf aus falschen Gründen stolz auf sich sein, und er darf langsam verblöden, und er darf seiner Frau bis zum letzten Blutstropfen treu bleiben, und er darf seine Mitmenschen respektieren, und irgendwann darf er dann sterben, und dann sagen alle: So ein tolles Leben, so ein aufrichtiges, sinnvoll verbrachtes Leben. Wo es doch in Wirklichkeit ein sinnloses, sinnentleertes, dummes, unmündiges, widerliches, unnatürliches, verbrecherisches Leben gewesen ist, ein Leben, von dem niemand etwas hat, nicht einmal Sie, denn Sie werden auch irgendwann so sein, dumm und unmündig und widernatürlich verzerrt und so alt, dass Sie am liebsten alle Ihre Mitmenschen mit sich reißen möchten. Schauen Sie mich nicht so an, sondern merken Sie sich lieber meine Worte, vielleicht werden Sie sie irgendwann sogar begreifen.
Professor Antonitsch holte tief Luft. Er fühlte sich wunderbar. Als wäre er aus einem zwanzig Jahre andauernden Albtraum aufgewacht und hätte festgestellt, dass die Welt doch keine Kugel war, sondern eine Scheibe, auf der es ganz
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