Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes
einfach und umkompliziert zuging. So lange war die Lösung direkt vor seiner Nase gewesen, jetzt endlich hatte er gesagt, was gesagt werden musste. Er schwebte, er vibrierte, und er war bereit, die Konsequenzen zu tragen.
– Und jetzt entschuldigen Sie mich, sagte er zu all den entrüsteten und fassungslosen Studentengesichtern. Entschuldigen Sie mich. Ich gehe nach Hause. Verklagen Sie mich. Bringen Sie mich hinter Gitter. Lauern Sie mir auf, verprügeln Sie mich, bringen Sie mich um. Nehmen Sie den Mord auf Video auf, und stellen Sie ihn ins Internet. Schreiben Sie Bücher über mich. Tun Sie, was Sie wollen. Sagen Sie die Wahrheit. Auf Wiedersehen.
5
Robert Waggerl empfand nichts. Sein Verstand fühlte sich schon seit dem frühen Morgen an wie ein Betriebssystem, das im abgesicherten Modus hochgefahren worden ist: Nur die lebensnotwendigen Programme funktionierten, und die Grafik war so prähistorisch und pixelig, dass einem davon schlecht wurde.
Robert trug zerrissene Jeans und ein T-Shirt, auf dem ein blauer Progress-Bar gedruckt war und darunter die Aufschrift:
Downloading Democracy
3%
Vor zwei Tagen war er sechzehn Jahre alt geworden. Vor ein paar Wochen hatte man ihm mitgeteilt, dass sein Vater, ein stadtbekannter Behindertenkünstler – oder wie man das sonst nennen mochte –, den er seit dem Unfall vor neun Jahren nicht mehr gesehen hatte, gestorben war. Das Medikament, mit dem die Ärzte seine Wutattacken in den Griff bekommen wollten, hatte sein Herz geschwächt, und irgendwann war es dann stehengeblieben.
Jetzt saß er, oder besser: lag er mit seinen Freunden in einem verrauchten Wohnzimmer vor dem Fernseher und versuchte zu verstehen, warum er keine Trauer fühlte. Ein unbestimmtes Gefühl war kurz aufgetaucht, aber es besaß keinen Namen und war außerdem gleich wieder weg gewesen.
Er und seine Kollegen Martin, Roland und Julius (genannt Köter oder Wuff, weil er mit Nachnamen Kötter hieß) schauten sich gewalttätige Pornofilme an und amüsierten sich über die lächerlichen schauspielerischen Leistungen der Männer und Frauen. Am besten gefiel Robert eine Szene, in der eine am Boden kniende Frau von einem maskierten Fettsack geohrfeigt, anschließend in den Mund gefickt und dann wieder geohrfeigt wurde. Die Frau bettelte um noch mehr Schläge, lächelte den Maskenmann verkrampft und ängstlich an und wiederholte brav, was dieser ihr vorsprach:
– Say: I’m a little cum slut.
– I am a little cum slut!!
– Say: I love to get my face slapped.
– I love to get my face slapped!!
– Good.
– Gott, ich liebe diesen Scheiß, sagte Wuff, dem derDVD-Player gehörte. Schau dir dieses süße Gesicht an. Ich würde ihr meine Ladung am liebsten durch die Nase bis rauf ins Gehirn spritzen.
Alle lachten. Robert war überrascht, denn er konnte nur so tun, als würde er lachen. Einer am Boden gefesselten und gedemütigten Frau seine Ladung ins Gehirn spritzen. Normalerweise hätte er darüber zumindest geschmunzelt. Er betrachtete seine drei Freunde. Martin war der älteste. Ihm gehörte die Wohnung, er ließ sie manchmal bei ihm übernachten. Ihm gehörten auch die Joints, die sie rauchten. Die Joints – das musste es sein, Robert hatte noch kaum davon probiert, hatte nur ein wenig inhaliert. Die anderen hatten ihm gegenüber einen Vorsprung. Sie waren breiter als er. Mit einer unsicheren Geste bat er um den Joint. Er nahm einen tiefen Zug und wartete. Die Szene auf dem Bildschirm änderte sich. Jetzt war da ein dunkler Folterkeller und eine blonde, dickliche Frau mit einem großen Lächeln, die sich von einem muskulösen Kerl mit Glatze fesseln ließ. Anschließend urinierte der Mann auf ihr Gesicht, in ihren lachenden Mund, in ihre Augen, auf ihre Brüste.
Martin und Wuff machten High-Five und johlten, als die Frau sich an dem Urin verschluckte und hustete und sich krümmte. Robert schaute auf den Bildschirm und sah nur die groben Pixel, die der aus dem Internet raubkopierte Film alle paar Sekunden aufblitzen ließ. Es war ziemlich ekelhaft, was da mit dieser Frau passierte. Sie wollte das bestimmt nicht, sie hatte vermutlich eine schwierige Kindheit hinter sich und war schon früh schwanger geworden und hatte die Schule verlassen müssen. Ach, halt doch die Schnauze, tadelteRobert die sentimentale Stimme in seinem Kopf. Schluss jetzt. Doch die Stimme plapperte weiter: Die Frau konnte nichts, sie hatte überhaupt keine Ausbildung. Diese entsetzlichen Filme waren das Einzige, wofür sie
Weitere Kostenlose Bücher