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Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Titel: Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Setz Clemens J.
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Die Papierfetzen warf er dem neuen Mitarbeiter ins Gesicht.
    – Ah, machte dieser.
    Der Laut eines Besiegten, eines fallenden Soldaten, in dessen Niere eine Kugel eindringt.
    – Sehen Sie mich gefälligst an, sagte Anton. Hören Sie zu.
    – Aber ich …
    – Kommen Sie mir nicht noch einmal mit einem solchen Unfug! Sie sind kein Kind in der Zeichenstunde!
    Dieser Satz tat ihm wirklich gut, denn das glupschäugige Kindchenschema von Franz Lukas’ Gesicht war ihm schon oft aufgefallen, und natürlich musste gerade das die Quelle für den unsäglichen Spott sein, den er ständig auf sich zog, also war es notwendig, es ihm auszutreiben, dieses unschuldige Erscheinungsbild – Anton fühlte sich wie ein Vater, der seinen Sohn ohrfeigt, damit der hart genug für die Ansprüche der Welt werde.
    – Sehen Sie mich gefälligst an, wenn ich mit Ihnen rede!, schrie er Franz Lukas an, obwohl dieser nur eingeschüchtert blinzelte. Und ziehen Sie nicht so ein beleidigtes Gesicht! Wenn Sie mir weiterhin so einen Müll vorlegen, werden Sie bald genauso ein Verlierer und Versager werden wie die hier!
    Er deutete auf die erstaunten Gesichter ringsum. Dieser Schlussakkord hatte gewirkt. Die Mitarbeiter wandten sich ab, warfen einander bedeutungsvolle Blicke zu. In Antons Brustkorb hämmerte es. Er hatte begonnenzu schwitzen. Es war schade um die Entwürfe, aber wenigstens … wenigstens.
    Er hoffte.
5
    Der dritte Akt der Tragödie war überstanden. Der Wendepunkt, an dem das Universum an einer Achse gespiegelt wird und langsam abkühlt. Anton war heute Morgen extra früher ins Büro gekommen. Er wollte Frau Nusch abfangen und sie fragen, ob sie schon eine Veränderung beobachtet hatte. Als sie endlich vor ihm saß, bemerkte er, dass sie sehr gelangweilt aussah. Keine Haarsträhnen pendelten vor ihrem Gesicht. Ihre Frisur wirkte gebändigt und brav, nicht die energiegeladene kompakte Masse, die sie sonst war. Dann sah er es: Der Knoten war verschwunden. Sie hatte sich die Haare schneiden lassen. Ihr Kopf glich einer Artischocke.
    – Alles in Ordnung?, fragte Anton.
    – Ich schätze schon, Herr Wolf.
    – Haben Sie irgendetwas bemerkt hinsichtlich …
    – Weswegen?, fragte sie.
    Aber sie hatte schon verstanden. Anton sah es: Sie war enttäuscht.
    – Wegen Herrn Lukas. Ist er von den anderen … ich meine …
    – Ach so. Na ja. Nein.
    – Inwiefern nein?
    – Er ist mit ihnen trinken gegangen, sagte die Sekretärin mit einer wegwerfenden Geste. Gestern, nach der Arbeit.Die Welt war so einfach zu bedienen! Ein Mausklick genügte, ein kleiner Auftritt vor versammelter Menge, und schon änderte die Erdrotation ihre Richtung.
    Anton war glücklich. Den ganzen Tag tat er beinahe nichts. Zu Mittag erhielt er einen Anruf von einem Kunden, der ihn nach den neuen Entwürfen fragte, die doch eigentlich heute auf seinem Schreibtisch … oder zumindest in der Post …
    – Ja, da hat es eine kleine Verzögerung gegeben, sagte Anton.
    – Eine Verzögerung?
    – Ein technisches Problem, erklärte Anton und musste ein irres Lachen unterdrücken.
    Die Welt war ein simpler Baukasten mit schwarzen und weißen Steinen! Niemand konnte ihm heute etwas anhaben.
    – Und ist dieses Problem jetzt überwunden?, fragte der Kunde. Wann darf ich mit den Entwürfen rechnen?
    – In ein paar Tagen.
    Pause.
    – Das ist etwas lang, meinte der Kunde. Aber wenn es nicht anders geht …
    Papier raschelte. Vermutlich blätterte er in einem Kalender.
    – Wenn Sie mir die Entwürfe bis Freitag schicken könnten …
    – Ja, das geht, sagte Anton.
    Was interessierten ihn noch diese Entwürfe? Er hatte ein Menschenleben gerettet. Eigenhändig.
    Am Abend klopfte es, und Franz Lukas stand in der Tür. Er wirkte verschreckt, auf seinen Wangen leuchtetenrötliche Flecken wie bei einem Kind, das meilenweit gerannt ist.
    – Könnte ich eventuell, begann er, ich meine, wenn Sie nur eine halbe Minute Zeit für mich, nur ganz kurz, wenn Sie …
    Seine Stimme wurde gegen Ende des Satzes immer leiser und höher.
    – Ja, was?
    – Also, ich wollte mich bei Ihnen für mein Versagen neulich entschuldigen und habe ein paar neue Entwürfe mitgebracht. Hier, sehen Sie.
    Er legte die Entwürfe auf den Schreibtisch, als wäre es ein Altar. Anton konnte sie kaum ansehen. Sie waren entsetzlich. Kitschig, langweilig, einfallslos und formalistisch. Vom erfrischenden Talent des neuen Mitarbeiters war nichts übrig geblieben.
    – In Ordnung, sagte Anton, berührte die Papiere mit den

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