Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes
Taubendreck.
Seine verunreinigte und höchstwahrscheinlich auch mit allerlei Taubenkrankheiten infizierte linke Hand von sich streckend, ging er weiter. Auf der schwindligen Treppe verlor er fast das Gleichgewicht. Sein rechtes Schulterblatt begann zu jucken, aber er vermied es, sich zu kratzen. Seine linke Hand war tabu, und mit der rechten reichte er nicht an die Stelle.
Ich bin verrückt, dachte er. Was mache ich hier? Im Stillen verfluchte er Frau Nusch, die natürlich nichts dafür konnte. Aber sie musste gespürt haben, dass er für solche Dinge anfällig war. Er war schließlich ein guter Mensch. Und das war jetzt der Dank dafür: Taubenscheiße und ein abbruchreifes Haus, in dem er einem unfähigen Mitarbeiter –
Nein, unfähig war er nicht, das war ungerecht. Franz Lukas war sogar sehr fleißig, verglichen mit einigen älteren Kollegen.
In dem Haus schien es nur offen stehende Türen zu geben. Aus manchen der Wohnungen drangen Geräusche, aber ob diese Geräusche mit menschlichem Leben zu tun hatten, war schwer zu sagen. Irgendwo spielte ein Radio klassische Musik.
Im zweiten Stock fand sich endlich eine geschlossene Tür. Es gab kein Klingelschild, aber Anton beschloss, einfach anzuklopfen und zu fragen. Es war von Anfang an eine Schnapsidee gewesen, eine Charakterschwäche, der er nachgegeben hatte (so wie damals, als er wegeneiner Ratte, die in seinen leeren Swimmingpool gefallen war und nicht mehr herauskam, die Polizei gerufen hatte), und er musste jetzt einen Schlussstrich ziehen. Er klopfte an die Tür.
Niemand reagierte, nichts geschah.
Anton schaute sich um. Am Ende des Ganges, neben einem Fenster, durch das trübes Licht fiel, stand jemand. Nein, etwas. Ein Rollstuhl. Auf der weißen Sitzfläche ein erloschenes rotes Teelicht. Anton ging näher. Der Docht der kleinen Kerze war abgebrannt, stellte er fest. Und auf der Fensterscheibe hinter dem Rollstuhl klebte etwas, das er noch nie gesehen hatte: schaumiger Staub. Oder vielleicht war es der Schaum eines Reinigungsmittels, der in seiner natürlichen Struktur getrocknet war.
Er hatte genug gesehen. Schnell rannte er die Treppe hinunter. Erst als er zurück auf der Straße war, traute er sich, frei zu atmen. Er stieg in sein Auto, legte die Weinflasche auf den Rücksitz und fuhr nach Hause.
Seine linke, kontaminierte Hand fasste das Lenkrad nur mit den Fingerspitzen.
4
Zwei Tage später landeten ein paar Entwürfe von Franz Lukas auf Antons Tisch. Er sah sie durch und musste feststellen, dass sie perfekt waren. Anton hatte schon lange nicht mehr eine solche Qualitätsarbeit gesehen. Sie waren sogar besser als alle bisherigen Arbeiten, die ihm der neue Mitarbeiter vorgelegt hatte. Da der Abgabetermin für die Kachelentwürfe seiner Abteilung immer näher rückte, war dies sehr bedauerlich.
Denn Anton hatte sich für diesen Tag vorgenommen, Franz Lukas öffentlich zu maßregeln.
Dass er nun ausgerechnet diese wunderbaren Entwürfe vernichten musste, war zwar bittere Ironie, aber es half alles nichts, es durfte so nicht weitergehen. Gestern Morgen waren zwei Bierflaschen im Eingangsbereich auf dem Boden gestanden. Anton hatte all seinen Mut zusammengenommen und Altenberger gefragt, was die Flaschen hier zu suchen hätten.
– Ach, die …, hatte Altenberger geantwortet. Die bringe ich in der Mittagspause zum Glascontainer.
– Während der Arbeitszeit wird nicht getrunken.
– Haben wir nicht, Toni, hatte ihm Altenberger versichert.
Nein, es half alles nichts, er musste es tun. Er musste Franz Lukas demütigen, und das vor den Augen seiner Unterdrücker. Vielleicht würden sie so zur Besinnung kommen und ein wenig Solidarität entwickeln. Es war ein Akt der Zärtlichkeit, der Schmerzen verursachen würde, eine Notoperation, unangenehm, aber letztlich lebensverlängernd. Eine öffentliche Hinrichtung, die wenigstens den Krieg beenden würde.
– Lukas!, brüllte Anton.
Ein Gesicht hob sich, dann die anderen.
– Was zum Teufel soll das darstellen?, fragte Anton und kam mit den Entwürfen in der Hand auf den betroffen um sich blickenden Franz Lukas zu. Sollen das etwa die endgültigen Entwürfe sein? Das, was ich mit meinem Stempel darunter an die Kundschaft weiterleiten soll? Mit meiner Verantwortung?
Lukas blickte entsetzt auf die Papiere in Antons Hand.Anton bemerkte den Blick und begann, die Blätter zu zerreißen. Er tat es langsam, so, dass es ihm selbst wehtat, aber das war nur natürlich. Er musste die Zähne zusammenbeißen.
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