Die Lieben meiner Mutter
hat, nicht entgangen, dass die Mutter Briefe von einem anderen Mann erhält, der nicht Sütterlin schreibt, sondern das moderne heidnische Latein. Auch nicht, dass die Empfängerin dieser Briefe, wenn die Kinder schlafen, mit fliegendem Stift viele Seiten füllt, die sie der Oma nicht mitgibt, wenn diezur Post geht. Die Oma, hat die Mutter an Heinrich geschrieben – und diese hat den Brief womöglich gelesen –, hasse jede Regung von Individualismus, jeden Versuch eines selbstbestimmten Lebens . Sie halte sie, Heinrichs Frau, für eine Rabenmutter, für haltlos, ja für verrückt .
Vorausgegangen ist diesem Brief ein Streit über Andreas. Die Oma hat die Kinder aus dem Zimmer geschickt und gefragt, was es mit dieser Geschichte auf sich habe. Und die Mutter, die nicht lügen kann und will, verneint die Frage nicht, ob sie mit dem anderen Mann ein Verhältnis habe. Es macht ihr sogar Spaß, die festgefügten protestantischen Moralvorstellungen der Oma zu erschüttern. Was sie mit dem Wort »Verhältnis« meine, fragt die Mutter zurück. Ja, sie liebe beide von ganzem Herzen, den Vater ihrer Kinder und auch Andreas. Falls die Oma Näheres wissen wolle, solle sie gefälligst ihren Sohn fragen, denn sie habe keinerlei Geheimnisse vor ihm.
Am Ende kommt es zu einem seltsamen Handel zwischen den beiden Frauen. Die Oma schlägt vor, die Mutter solle ihr wenigstens die zwei älteren Kinder überlassen. Die Mutter bleibt so gefasst wie möglich, aber in der Sache hart. Es sei ihr keineswegs entgangen, dass alle Kinder sehr an ihrer Oma hingen. Und sicher würden alle Kinder schrecklich leiden, wenn sie sie entbehren müssten. Aber die Oma werde ihre Enkel nur dann weiter sehen und betreuen können, wenn sie sie auf der Flucht begleiten würde – und zwar alle vier! Unddazu sei sie herzlich eingeladen!
Die Mutter ist tief erleichtert, als sie noch kurz vor ihrer Abreise einen Brief ihres Mannes erhält, in dem er sich ganz auf ihre Seite stellt und sie in ihrem Plan zur Flucht bestärkt. Überschwänglich bedankt sie sich für seinen Beistand, für die Gewissheit, dass sie ihn in ihrer inneren Verlassenheit immer hinter sich weiß. Wir müssen uns wiederhaben und wieder zusammen an einem Leben für unsere Kinder bauen, weiter wollen wir uns nichts mehr wünschen und dafür alles auf uns nehmen!
Die Luft ist voll von schrecklichen Gerüchten: Tausende von Flüchtlingen sind auf der Leipziger Landstraße unterwegs und noch zweihunderttausend weitere sollen dazukommen. Das ganze linke Elbufer soll geräumt werden, und jeder, der mit etwas Essbarem im Koffer oder im Rucksack unterwegs sei, heißt es, riskiere Mord und Totschlag. Sie setzt auf die ebenfalls fliehenden deutschen Soldaten, die sie und ihre Kinderschar für ein paar Zigaretten und ein paar Mark ein Stück weit auf ihren Lastwagen weiterbringen werden. Sie hat 1000 Mark dabei und sechzig Zigaretten. Allerdings hat sie keine Ahnung, ob das Haus ihres Vaters in Grainau frei ist. Er hat auch ihr letztes Telegramm nicht beantwortet.
Die Flucht übertrifft alle ihre Albträume. Ein Meer von Flüchtlingen ist auf der Leipziger Landstraße unterwegs. Zusammen mit den Deutschen flüchten Hunderte von Russen und Ukrainern nach Süden, die bis eben nochals Sklavenarbeiter in deutschen Betrieben geschuftet haben. Offenbar haben sie vor der Roten Armee noch mehr Angst als vor den Deutschen, schreibt die Mutter an Heinrich, e in unabreißbarer Zug von Elend und Leid. Furchtbarer als der Anblick der Toten, die sie in Dresden gesehen hat, ist ihr der Anblick von ehemaligen Strafgefangenen – so ihre Bezeichnung für einen Zug von KZ -Häftlingen, der von SS- Bewachern noch in den letzten Monaten nach Bayern geführt wird – mit so verzerrten Gesichtern, so verhungert und verelendet, viele konnten nicht mehr laufen, wurden gezerrt und geschleppt – grauenvoll! Die Bilder der verkohlten und verbrannten Menschen in Dresden sind nichts gegen das Leid dieser Unglücklichen.
Sie entschließt sich, nur Regionalzüge zu nehmen, die nicht so oft bombardiert werden wie D-Züge, und nur solche, die nachts fahren. Bei Morgenanbruch steigt sie mit den Kindern aus, egal wo, nur weg vom Bahnhof, und verbringt den Tag irgendwo auf dem Land. Bei Anbruch der Dunkelheit dann zurück zum Bahnhof und auf den nächsten Regionalzug warten, der Richtung Süden fährt. Wenn der nicht kommt – oder wenn sie es nicht schafft, mit den Kindern hineinzugelangen –, nachts zu Fuß weiterlaufen. In den
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