Die Lieben meiner Mutter
selbst genähten Rucksäcken hat sie Proviant für sieben Tage untergebracht. Wie man den achten, neunten oder zwölften Tag überstehen soll, weiß nur der große Schweiger namens Gott, an dessen Hilfe sie nicht glaubt.
Die Deutsche Post funktioniert auch noch im letzten Kriegsmonat.Im April 1945 hatte Andreas eine Postkarte der Mutter mit einem Bericht über ihre Flucht erhalten. Von seinem Lager in Bad Wörishofen aus lässt er sich zu einer Hymne über ihre Tatkraft hinreißen. Er bewundere ihre Umsicht und Kraft restlos, lässt er sie wissen. Dass sie sich und ihre Kinder vor den Angriffswalzen der alliierten Bomber rechtzeitig nach Bayern gerettet habe. Und dabei noch Koffer und Kartoffeln geschleppt und die hundert anderen Bedarfsfragen bewältigt habe, ganz abgesehen von den Widerwärtigkeiten beim Umgang mit gierigen Taxifahrern. Er verstehe alles sehr, sehr gut und finde das alles fast übermenschlich . Es komme eben doch auf den Kopf genauso an wie auf die physischen Kräfte – es sei wirklich eine Tat, auf die sie stolz sein könne. Nur solle sie sich etwas Ruhe gönnen, auch wenn die Bälger schreien! Denke immer daran, daß du von all deinen Kindern das Teuerste bist!
Es war dunkel, als wir ankamen. Ich sah nur die Umrisse des spitzgiebeligen Holzhauses auf dem Hügel, von dem die Mutter sagte, dass dies jetzt unser Zuhause sei. In dem kurzen Stück Himmel zwischen den rundum aufragenden Bergwänden blinkten ein paar Sterne. Endlich waren wir in Sicherheit – und zwischen himmelhohen Felswänden gefangen. Bisher hatte ich nur flache Landschaften mit weiten Horizonten gekannt.
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Im Vergleich zu den Bauernhäusern im Dorf bot das Haus des Großvaters einigen Luxus. Es gab fließendes Wasser, elektrisches Licht und ein Telefon. Die Bauern im Dorf wohnten mit ihrem Vieh unter einem Dach. Eine Tenne trennte den Wohn- vom Wirtschaftsteil. Die Tiere verbrachten den Winter, nur durch eine Holzwand oder eine Mauer getrennt, im selben Haus. Die meisten Bauern hatten Licht in ihren Häusern, aber kein fließendes Wasser. Der Küchenboden bestand aus gestampfter Erde, das Klohäuschen stand im Hof, die Wäsche wurde draußen im Kreppbach gewaschen. Der einzige Schmuck in den Häusern waren Hirschgeweihe, Marien- und Christusbilder und Holztafeln mit gereimten Sinnsprüchen an den Wänden. Die Balkone waren mit Brüstungen aus Holz versehen, in die Sterne, Halbmonde oder Herzen geschnitten waren. Im ganzen Dorf gab es nur drei Autos, die den ortsansässigen Vereinen gehörten: dem Schützenverein, der Feuerwacht und dem Alpenverein. Als Transportmittel dienten von Ochsen gezogene Hornschlitten und rechteckige Stellwagen.
DasKriegsende kündigte sich in Grainau zuerst durch eine Invasion von herrenlosen Pferden an. Überall auf den Wiesen, in den Straßen, in den Gärten liefen auf einmal hungrige Pferde umher, scharrten mit den Hufen den frisch gefallenen Aprilschnee weg, stocherten mit ihren Nüstern in der immer noch halb gefrorenen Erde herum und verteilten überall ihren Kot. Die herumstreunenden Pferde sorgten für große Aufregung im Dorf – die Bauern mochten Pferde nicht. Sie waren an den Anblick und Gestank von Kuhfladen gewöhnt; die runden trockenen Äpfel, die plötzlich aus tausend Pferdehintern fielen, erregten den Unmut der Einheimischen. In Grainau hatte man seit Jahrhunderten Schafe, Schweine, Ochsen und Kühe gehalten – Pferde galten als Luxustiere, die allenfalls ein paar Adlige und Villenbesitzer zum Ausreiten und Jagen benutzten.
Plötzlich, über Nacht, gab es mehr Pferde als Kühe im Dorf.
Aber die über tausend Pferde, die Grainau in eine Art Ausnahmezustand versetzten, gehörten nicht den paar verstreuten Städtern und Adligen in der Umgebung. In der Nacht zum 30. April 1945 waren versprengte Einheiten der Gebirgsjäger und der SS auf ihrer Flucht vor der amerikanischen Armee von Garmisch über Hammersbach nach Grainau gelangt und verstopften mit ihren Pferdegespannen, ihren Last- und Stellwagen die Straßen.
Garmisch-Partenkirchen hatte sich am Abend des 29. April 1945, einen Tag vor dem Selbstmord Adolf Hitlers,der US-Armee ergeben. Wahrscheinlich war die Stadt, so erzählte mir der wohl wichtigste Heimathistoriker der Region, Alois Schwarzmüller, durch den heroischen Alleingang des Standortkommandanten Ludwig Hörl und seiner Offiziere vor dem Untergang gerettet worden.
In seinem Bericht über das Kriegsende in Garmisch-Partenkirchen stellt Alois Schwarzmüller
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