Die Lieben meiner Mutter
zur Bombardierung von Garmisch-Partenkirchen getroffen worden seien. Der Angriff aus der Luft stehe unmittelbar bevor, es sei nicht mehr möglich, diese Maßnahme rückgängig zu machen. Pössinger setzte seine Beredsamkeit und seine militärische Erfahrung ein, um Hankins davon zu überzeugen, dass der Angriff amerikanischer Bomber nicht mehr notwendig sei, weil Garmisch-Partenkirchen und das Loisachtal nicht mehr verteidigt würden. Nach vielen Telefonaten erklärte der US -Offizier am Ende der schweißtreibenden Unterredung schließlich, dass es ihm gelungen sei, den Angriff »in letzter Minute« abzuwenden.
Bis heute, so merkt Alois Schwarzmüller an, streiten amerikanische Zeitzeugen und Historiker über die Gründe für die Verhinderung des bereits vorbereiteten Bombardements. In den Aufzeichnungen der »Combat-Chronology der US -Army Air Forces in World War II« für den 29. April 1945 heißt es: »Weather cancels operations by 9th Bomb Div.«, »Weather again restricts operations« und » Bad weather again prevents HB operations«. Im Übrigen, so behaupten einige amerikanische Historiker, sei die Drohung mit Bomberangriffen eine List gewesen, um eine Stadt wie Garmisch-Partenkirchenkampflos einzunehmen. Aus militärischer Sicht wäre es falsch gewesen, die einzige Straße, auf der die Panzer Innsbruck erreichen konnten, zu zerstören.
Ob nun der tapfere Oberst Hörl oder das schlechte Wetter verantwortlich war – sicher ist, dass das Schicksal von Garmisch-Partenkirchen, aber auch das von Grainau anders verlaufen wäre, wenn der Bombenangriff stattgefunden hätte. Vergeblich suche ich im Stadtplan von Garmisch-Partenkirchen nach einem Platz oder einer Straße, die den Namen von Ludwig Hörl trägt.
Wegen des Gewimmels von Pferden, Stellwagen und Soldaten unten auf der Straße hatte uns die Mutter verboten, aus dem Haus zu gehen. Aber als wir sahen, dass die Soldaten Säcke von ihren Wagen abwarfen, die von den Nachbarskindern sogleich aufgesammelt und weggeschafft wurden, stürmten wir hinunter. Wir griffen nach den zwei, drei Säcken, die noch übrig waren, aber Kaffee, erkannten wir an den Aufschriften, gehörte nicht zu unserer Beute. Kaffee war der Mutter wichtiger als Schokolade und als Butter. Kaffee war für sie ein Lebensmittel – das einzige, das ihr gute Laune machte.
Hanna beschwatzte zwei Nachbarsjungen, von ihren Vorräten eine Ladung Kaffee für die Mutter abzuzweigen. Die beiden taten ihr den Gefallen, warfen ein gutes Dutzend Kaffeepackungen in einen Sack und trugen ihn ins Haus. Die Mutter umarmte die verdutzten Jungenstürmisch, als sie das magische Wort hörte: Kaffee! Sie konnte ihre Enttäuschung nicht verbergen, als sie gewahr wurde, um welche Sorte von Kaffee es sich handelte: Malzkaffee.
Die Szene mit den abgeworfenen Säcken in der Straße vor unserem Haus gehört zu meinen frühesten Erinnerungen an Grainau. Bis vor Kurzem hätte ich geschworen, dass es die US -Armee gewesen war, die die Säcke mit den Lebensmitteln gespendet hatte. Aber in meiner Begeisterung für die amerikanischen Soldaten, ihre Jeeps und ihre Panzer hatte ich die Szene umgeschrieben. Ein halbes Jahrhundert später lernte ich einen der beiden Nachbarsjungen kennen, die den Kaffee in unser Haus getragen hatten. An mich, den damals fünfjährigen Knirps, konnte sich Anderl nicht erinnern, wohl aber an meine beiden älteren Geschwister, mit denen er gespielt hatte. Der fast Achtzigjährige belehrte mich darüber, dass es SS -Einheiten gewesen waren, die die Säcke in der Alpspitzstraße abgeworfen hatten. Die US -Army war mit ihren Panzern erst einen Tag später in Grainau eingetroffen. Aber sie hatte bei ihrem Einmarsch nicht die schmale Alpspitzstraße genommen, sondern die Loisachstraße, die man auch heute noch als die Hauptstraße nach Grainau bezeichnen kann. Die Säcke, die vor unserem Haus abgeworfen wurden, stammten also nicht von der US -Army, sondern von der SS .
Die versprengten SS -Einheiten waren auf ihrer ungeordnetenFlucht einen Tag vor der amerikanischen Armee in Grainau angekommen. Ursprünglich hatten sie wohl gehofft, über die Alpen nach Tirol weiterzukommen. Als ihnen klar wurde, dass sie weder vor noch zurück konnten und in Grainau festsaßen, ließen sie ihre Pferde frei und trieben sie auf die Wiesen. Sie liefen zu den Bauernhöfen und tauschten ihre Lebensmittelvorräte gegen Zivilkleidung ein. Säcke mit Mehl, Bohnen, Mais und Zucker und Kartons mit Kaffee und Schokolade
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