Die Lieben meiner Mutter
wechselten gegen alte Hüte, Stallgewänder, Melkschürzen, speckige, durchlöcherte Lederhosen und Arbeitskittel den Besitzer. Die SS -Leute warfen ihre Waffen, ihre Munition und Gasmasken in die Loisach und in die Bärengrube und flüchteten zu Fuß in die Berge. Schon am nächsten Morgen waren sie verschwunden – nur ihre Pferde blieben.
Noch Monate nach dem amerikanischen Einmarsch hatten Gebirgsjäger und SS -Soldaten in den Heustaderln hoch über Grainau gehaust. Ihre verlassenen Pferde jedoch irrten über die Wiesen und durch die Straßen. Nach und nach wurden sie von den Amerikanern beschlagnahmt. Anderl selbst hatte gerade noch rechtzeitig ein Pferd eingefangen, indem er ihm ein Büschel von Heu vor das Maul hielt, und es dann im Stall eines Bauern versteckt. Später hatte er es an einen Händler losgeschlagen, der es zusammen mit anderen Pferden auf einem Lastwagen nach Niederbayern brachte.
Die Bauersfrauen sammelten die zurückgelassenen Uniformenein, wuschen sie im Kreppbach und nähten daraus, nachdem sie den Stoff gewendet hatten, Jacken, Hosen, Mäntel und sogar Unterwäsche für ihre Familien. Noch zwei Jahre nach dem Krieg lief das halbe Dorf im Einheitsgrau der Gebirgsjäger herum.
Am Tag nach dem Spuk mit den Säcken auf der Alpspitzstraße hörten wir wie fernes Donnergrollen dumpfe Motorengeräusche. Hanna und ich rannten den Geräuschen nach zum unteren Dorfplatz und suchten zwischen den Beinen der dicht gedrängten Erwachsenen nach einer Lücke. Die Spitze der amerikanischen Einheit bildete ein kleines, offenes, mit einem MG bestücktes Fahrzeug, in dem vier Soldaten saßen. Auf die Motorhaube war ein großer weißer Stern gemalt. Dem offenen Wagen folgten mehrere Panzer und andere Kettenfahrzeuge, dann wieder Jeeps mit zwei oder vier Soldaten. Einer der Fahrer ließ das linke Bein lässig über das Trittbrett hängen. Das Gesicht unter der Mütze war rabenschwarz. War dies eine Kriegsbemalung oder war ein Flecklegwander aus einem fremden Land gekommen, der gleich absteigen, nach mir greifen, mich in die Luft werfen und anschließend verdreschen würde? Der Fahrer fluchte, weil Hanna eine Lücke zwischen den Reihen der Einheimischen gefunden hatte und ihm fast vor die Räder lief. Sie rief ihm etwas zu, was der Fahrer erst nach mehreren Wiederholungen zu verstehen schien. Er winkte ihr zu und öffnete die Lippen, wobei er eine Reihe von erschreckend weißen Zähnen sehen ließ. Die weite Öffnung desMundes in dem schwarzen Gesicht und die Geräusche, die aus diesem Mund kamen, konnten nur bedeuten, dass der Mann lachte. Und während er so furchterregend lachte, warf er Hanna ein paar längliche Streifen zu. Thank you!, rief meine Schwester, während sie die Streifen von der Straße aufsammelte.
Mit den geheimnisvollen Streifen liefen wir zum Haus zurück. In dem silbrigen Papier unter der Verpackung steckte etwas Graues, Gummiartiges, das Hanna sich beherzt in den Mund schob. Vergeblich versuchte ich das Wort aussprechen, das sie mir vorsagte: Chewinggum. Du musst den Gummi kauen, sagte Hanna, sehr lange kauen! Diese Regel kannte ich von unseren Brotrationen. Aber dass man den Gummi nach endlosem Kauen nicht etwa schlucken, sondern ausspucken sollte, war zu viel verlangt. Hungrig, wie wir waren, haben wir unsere ersten Kaugummis geschluckt.
Das lässig aus dem Jeep heraushängende Bein des schwarzen Fahrers hat mein Bild von den USA geprägt.
Schon am nächsten Tag bauten die »Amis« auf einer Wiese nicht weit vor unserem Haus eine Feldküche auf. Aus einem ungeheuren Suppentopf, der so groß wie eine Kirchenglocke war, schöpften sie mit einer Kelle Suppe und verteilten sie an die Einheimischen. Die fanden rasch heraus, dass Kinder beim Suppenfassen bevorzugt wurden – je kleiner die Kinder waren, desto eher wurden sie bedient. Deswegen schickten die Eltern ihren Nachwuchs zum großen amerikanischen Suppentopf – je mehr Kinder eine Familie hatte, destomehr Suppe konnte sie ergattern. Wer keine Kinder hatte, schickte die Neffen oder Enkel. So bildeten sich vor dem Suppentopf lange Schlangen von Kindern, unter denen sich rasch das Gesetz des Stärkeren durchsetzte. Die Größeren warteten in der Nähe, nahmen den Kleineren ihre gefüllten Näpfe weg und schlürften sie in einem Zug aus. Der eine oder andere Räuber spülte den leer gegessenen Napf mit Pisse aus und stellte sich damit wieder an. Hanna und mir gelang es nicht, unsere Töpfe vor den halbwüchsigen Wegelagerern zu
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