Die Liebenden von Leningrad
zugute. Die Gegend hier ist von Wasser umgeben.«
Dimitri rückte dichter an Tatiana heran, legte ihr fest den Arm um die Schultern und fuhr ihr durch die Haare. »Deine Haare werden langsam wieder länger, Taneschka«, sagte er. »Lass sie wieder lang wachsen, ja? Mir haben sie so gut gefallen!« Was auch immer Alexander Dimitri vorspielt, dachte Tatiana, es wird ihn nicht überzeugen. Wie lange soll das bloß noch so weitergehen? Vielleicht sollten wir aufhören, so oft in Gegenwart der anderen miteinander zu reden. Als hätte Alexander Tatianas Gedanken gelesen, rückte Alexander mit seinem Stuhl näher an Dascha heran.
»Die Deutschen stehen doch wohl nicht entlang der gesamten Länge der Newa, oder?«, fragte Dascha. »Sie befinden sich an dem Abschnitt, der durch die Stadt fließt, und weiter den Fluss hinauf bis zum Ladogasee und bis Schlüsselburg.«
Schlüsselburg war eine kleine Stadt an der Spitze des Ladogasees.
»Ist Schlüsselburg denn schon von den Deutschen besetzt?«, fragte Dascha.
»Nein«, erwiderte Alexander seufzend. »Aber morgen wird es so weit sein.«
Tatianas Mutter fragte: »Wie wird die Stadt denn jetzt mit Lebensmitteln versorgt, wo doch die Lagerhäuser niedergebrannt sind?«
Dimitri sagte: »Es geht nicht nur um Lebensmittel, sondern auch um Kerosin, Benzin und Munition.« »Zuerst einmal müssen wir die Deutschen davon abhalten, in die Stadt einzumarschieren, dann kümmern wir uns um alles andere«, erklärte Alexander.
Dimitri lachte bitter. »Sie können jederzeit hier einmarschieren. Jedes größere Gebäude in Leningrad ist vermint. Jede Fabrik, jedes Museum, jede Kathedrale, jede Brücke. Wenn Hitler die Stadt betritt, wird er in ihren Trümmern umkommen. Wir können ihn nicht aufhalten, aber wir werden mit ihm sterben.« »Nein, Dimitri, wir werden die Deutschen daran hindern, in die Stadt einzudringen.«
»Was wird nur aus uns?«, fragte Tatiana ängstlich. Niemand antwortete.
Kopfschüttelnd sagte Alexander schließlich: »Dimitri und ich fahren morgen nach Dubrowka. Wir werden tun, was wir können.«
»Warum müssen wir das eigentlich tun?«, rief Dimitri aus. »Warum können wir Leningrad nicht einfach aufgeben? Minsk hat doch auch aufgegeben und Kiew und Tallinn auch. Die ganze Krim hat sich ergeben. Und die Ukraine!« Er redete sich in Rage. »Warum lassen wir all unsere Männer umbringen, nur damit Hitler nicht hierher kommt? Soll er doch kommen!« »Aber Dima, wir leben doch hier! Was soll denn mit uns geschehen, wenn die Deutschen einmarschieren?«, protestierte Mama.
»Das stimmt, Dima«, sagte Alexander sachlich.
»Hast du denn nicht gehört, was die Deutschen mit den Frauen in der Ukraine gemacht haben?«, fiel Dascha ein.
»Ich habe es nicht gehört«, sagte Tatiana. »Was haben sie denn mit ihnen gemacht?«
»Nichts, Tania«, erwiderte Alexander sanft. »Kann ich bitte noch etwas Tee haben?« Tatiana stand auf.
Mit einer auffälligen Geste blickte Dima in seine leere Tasse. »Ich bringe dir auch noch Tee, Dima«, beeilte sich Tatiana zu sagen.
»Sie sind nicht aufzuhalten«, sagte Dimitri. »Wir haben drei jämmerliche Armeedivisionen. Das wird nie und nimmer ausreichen!«
Alexander erhob sich und verabschiedete sich von allen. »Das war das Schlusswort«, sagte er ironisch. »Wir müssen gehen.« Dann wandte er sich an Dimitri und sagte: »Auf, Gefreiter, lass uns unsere Mission erfüllen.« Er vermied es, Tatiana anzusehen.
Dimitri war blass und schwieg.
Dascha klammerte sich weinend an Alexander. »Versprichst du mir, lebend zurückzukommen?«
»Ich werde mein Bestes tun.« Er warf Tatiana einen verstohlenen Blick zu.
Tatiana reichte Dimitri die Hand und ignorierte das Flehen in seinen Augen. Als die beiden Männer gegangen waren, griff sie betont gleichgültig in die Keksdose.
Marina sagte: »Ich mag Dima, Tania. Er ist ehrlicher als alle anderen Soldaten. Mir gefällt das.«
Verwirrt blickte Tatiana ihre Kusine an. »Welcher Soldat will denn schon gern kämpfen? Du kannst ihn haben, Marina.«
Am nächsten Morgen hörten die Metanows im Radio, dass eine Brandbombe das Dach eines Hauses in der Sadowaya Ulitsa in Brand gesteckt hatte. Die Dachpatrouille hatte sie nicht rechtzeitig löschen können. Sie war explodiert und dabei waren neun junge Menschen umgekommen. Mein Bruder war auch jung, dachte Tatiana, während sie ihre Schuhe anzog. Ihr Schienbein schmerzte. »Siehst du? Was habe ich dir gesagt?«, klagte Mama. »Es ist gefährlich
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