Die Liebenden von Leningrad
neben Stepanow ein Zimmer frei. Das Gebäude wird geheizt. Dann habe ich es richtig warm.« »Das freut mich«, erwiderte Tatiana. »Hast du denn auch eine Decke?«
»Ich decke mich mit meinem Mantel zu, aber ich habe auch noch eine Decke. Es geht schon, Tania. Und, wo möchtest du jetzt hingehen?«
»Am liebsten mit dir nach Lazarewo«, erwiderte sie. »Aber da das nicht möglich ist, kann es auch der Sommergarten sein.« Er seufzte schwer. »Also gut, lass uns zum Sommergarten gehen.«
Schweigend liefen sie für eine Weile nebeneinander her. Schließlich holte Tatiana tief Luft. »Alexander, wir sind jetzt allein. Also erzähl mir, warum du die Hälfte des Geldes mitgenommen hast.«
Er schwieg beharrlich. Seufzend wiederholte sie: »Alexander, warum hast du nur die Hälfte des Geldes mitgenommen?« Warum fiel es ihm nur so schwer, darüber zu reden? »Weil ich dir meine Hälfte dagelassen habe«, sagte er langsam. »Es gehört doch alles dir! Das ganze Geld gehört dir. Was redest du denn da?« Schweigen.
»Alexander! Wofür brauchst du denn fünftausend Dollar? Wenn du fliehen willst, brauchst du alles. Wenn nicht, brauchst du gar nichts. Also, warum hast du die Hälfte mitgenommen?« Er antwortete nicht. Es war wie in Lazarewo. Tatiana fragte etwas, er gab ihr eine knappe Antwort und danach sagte er nichts mehr. Und Tatiana konnte Stunden damit zubringen, sich den Sinn selbst zusammenzureimen. »Weißt du was?« Verärgert ließ sie seinen Arm los. »Ich habe dieses Spiel satt. Entweder erzählst du mir jetzt die ganze Geschichte oder du drehst dich um, holst deine Sachen und verschwindest. Du hast die Wahl!« Tatiana blieb stehen und verschränkte abwartend die Arme. Auch Alexander blieb stehen, aber er sagte nichts. »Überlegst du es dir noch?«, fragte sie. »Ich weiß, Alexander, wenn du deine Uniform trägst, dann glaubst du immer, dass ich mehr Respekt vor dir habe. Aber ich weiß auch, dass du wehrlos bist, wenn wir uns geliebt haben. Das Problem ist nur ...« Ihre Stimme wurde brüchig. »Ich bin nicht mehr so stark. Ich kann mich gegen dich nicht zur Wehr setzen. Und weil du Angst davor hast, mir die Wahrheit zu sagen, schweigst du einfach, weil du glaubst, wenn du sie nicht aussprichst, spüre ich sie auch nicht.« Sie begann zu weinen. »Bitte, hör auf«, flüsterte Alexander.
»Nun, aber ich kann sie spüren, Shura.« Tatiana wischte sich die Tränen ab und ergriff seine Hand. »Du bist deshalb so wütend hierher gekommen, weil du geglaubt hattest, dich in Lazarewo für immer von mir verabschiedet zu haben ...«
»Deshalb bin ich nicht wütend ...«
»Es sieht so aus«, fuhr Tatiana fort, »als müsstest du dich in Leningrad noch einmal von mir verabschieden. Aber du musst es mir ins Gesicht sagen, weißt du?« Alexander blickte sie gequält an.
»Alexander, glaubst du im Ernst, ich wüsste es nicht? Ich habe nichts anderes zu tun, als über die Dinge nachzudenken, die du mir sagst. Die ganze Zeit über wolltest du nach Amerika fliehen. Das war das Einzige, was dich all die Jahre aufrecht gehalten hat, als wir uns noch nicht kannten - die Hoffnung, dass du eines Tages wieder nach Hause zurückkehren könntest. Habe ich Recht?«
»Du hast Recht, ja«, erwiderte Alexander. »Aber dann habe ich dich kennen gelernt.«
Dann habe ich dich kennen gelernt. Oh, der Sommer letztes Jahr, die weißen Nächte an der Newa, der Sommergarten, sein lächelndes Gesicht...
»Tatiana, es ist für mich zu spät zu fliehen. Mein Vater hat uns alle dem Untergang geweiht, als er beschloss, Amerika zu verlassen. Ich wusste es als Erster - damals schon. Dann wusste es meine Mutter. Mein Vater hat es erst als Letzter begriffen, aber für ihn war es am schlimmsten. Meine Mutter konnte ihm die Schuld geben. Ich hoffte, ich könnte es verdrängen, indem ich in die Armee eintrat. Aber auf wen konnte mein Vater mit dem Finger zeigen?«
Tatiana drängte sich dichter an ihn und Alexander schlang die Arme um sie.
»Tania, als ich dich fand, hatte ich ein oder zwei Stunden lang - bevor Dimitri oder Dascha ins Spiel kamen - das Gefühl, mein Leben könnte wieder ins Lot kommen. Ich verspürte ein Gefühl der Hoffnung, etwas Schicksalhaftes, das ich weder erklären noch verstehen konnte. Doch dann wurde alles kompliziert. Du weißt, dass ich versuchte, dir fernzubleiben - und ich dachte, ich müsse dir fernbleiben. Immer wieder habe ich versucht, eine Distanz zu dir aufrechtzuerhalten.« Er schwieg und fuhr dann
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