Die Liebesangst - Ragde, A: Liebesangst
Fahrstuhl verlassen und nie wieder zurückblicken.
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Nachdem sie den Artikel fertig geschrieben, mit Abel telefonisch die Zitate abgeglichen und alles an die Redaktion geschickt hatte, öffnete sie die Minibar. Weißbier, Weißwein und eine halbe Flasche Moët & Chandon. Und Schnaps. Schnaps war das, was sie jetzt brauchte. Sie mischte in einem Weinglas zwei Miniflaschen Gin mit Tonic und trank auf ex, ehe sie Geir anrief.
»Du, wegen morgen. Können wir uns nicht einfach hier an der Rezeption treffen, sagen wir gegen elf, und dann entscheidest du, wohin wir gehen, wir machen mit niemandem einen Termin, wir machen einfach so eine kleine Roadkiste und reden mit Leuten, die uns über den Weg laufen, du kennst dich doch hier aus? Wir scheißen auf die Künstlerwohnung, die allein würde doch den halben Tag verschlingen, und ich steh gerade nicht so auf Lyriker. So Richtung Musik und Malerei und Performance. Gewürzt mit dem einen oder anderen Norweger.«
Das war ganz nach Geirs Geschmack. Mit großer Erleichterung spürte sie, wie der Schnaps anfing zu wirken. Alleinerziehender mit einer Tochter, das war doch total krank, vielleicht hatte sie ja PMS , aber das war ein hoffnungsloser Strohhalm, dann hätte sie es nicht mal geschafft, den Koffer zu packen, geschweige denn, einen Metallstock zu zerbrechen. Sie war leider ganz sie selbst. Aber gleichzeitig fühlte sich das überhaupt nicht so an. Dagegen half nur eins.
Es war elf Uhr.
Sie steckte sich die Haare zu einem wilden Knoten hoch, von dem sie aus Erfahrung wusste, dass er seine Wirkung tat, schminkte sich mit rotem Lipgloss, ein wenig Rouge und besonders viel Wimperntusche, stopfte das weiße Hemd in den Bund der Jeans, öffnete einen weiteren Knopf, besprühte sich mit Eau de Toilette und schaute in den Spiegel. Sie sah wesentlich jünger aus, als sie war, und ihre Augen leuchteten auf eine besondere Weise, die sie gut kannte, sowohl vor als auch nach dem Sex, hauptsächlich danach, wenn ihr Körper weich und satt und befriedigt war.
Sie verließ das Zimmer und fuhr mit dem Fahrstuhl in die Bar hinunter. Sie nahm keine Handtasche mit, nur Kreditkarte und ihre Schlüsselkarte. Dieser Fahrstuhl fuhr nicht durch das Aquarium, aber sie interessierte sich gerade überhaupt nicht für zweieinhalbtausend exotische Fische, eingesperrt in einem Glaszylinder mitten in Berlin.
Die Bar war ziemlich überfüllt, aber sie fand einen kleinen Ecktisch. Sie legte die Schlüsselkarte für den Kellner sichtbar auf den Tisch, er sollte nicht glauben, dass sie eine Professionelle auf Männerfang war, manche Sterne-Hotels waren in dieser Hinsicht extrem streng und gewissenhaft. Sie bat um einen doppelten Dry Martini und eine Schale grüne Oliven und wollte sich gerade gründlich im Raum nach Handelsreisenden umsehen, die vor Einsamkeit und Langeweile starben, als der Kellner zurückkam. Als sie den Kopf hob und ihm ins Gesicht blickte, wusste sie, dass ihre Suche beendet war.
»Do you want to put it on your room, madam? Or would you prefer to pay now?«
Sie hob die Schlüsselkarte hoch und musterte sie auf beiden Seiten. Die Zimmernummer stand nicht darauf.
»I’ve forgotten the number«, sagte sie. »But I’ve got my Visa. Still, I want to drink more.«
»I can check out your room number on the screen in the bar, if you give me your name, Madam.«
Sie reichte ihm die Visakarte.
»Here’s my name. Thank you.«
»No, you just keep it until you have finished. Anything else?«
Ihre Blicke trafen sich und lösten sich erst voneinander, als sie lächelte und in eine andere Richtung schaute.
»Not yet«, sagte sie. »But thank you.«
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Es war eigentlich ganz einfach. Sie brauchte ihn nur zu vergessen. Er hatte sie natürlich in der Sekunde bereits vergessen, als er ihr den Rücken zugekehrt hatte. Eine Frau in weinroter Chenillehose mit blöden Stöcken in einer kritischen Situation mit dem Kostbarsten, was er hatte: seiner eigenen Tochter. Er hatte wirklich anderes im Kopf gehabt. Aber im Moment fiel ihr kein einziger Mann ein, für den sie jemals ähnliche Gefühle empfunden hätte.
Ihre Männergeschichten hatten bisher immer mit einem erotischen Knistern angefangen. Immer. Und noch nie so.
Das alles war ein riesiges Missverständnis.
Sie ließ den Kellner nicht aus den Augen, registrierte aber auch die Blicke der anderen, ein Mann in einem eierschalenfarbenen Leinenanzug saß allein schräg hinter ihr an einem Tisch, sie warf ihm einen direkten Blick zu, als sie
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