Die Liebesangst - Ragde, A: Liebesangst
wäre es an der Zeit, sich zu erkundigen, ob sie nicht eine Zeitlang Spätschicht machen könnte.
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»Du fliegst nach Berlin, Ingunn, du nimmst die Maschine um halb eins, Morten Abel gibt uns ein Exklusivinterview, weil wir im vorigen Jahr dichtgehalten haben, er erzählt dir alles über das Comeback und die Studioarbeit von September When, aber es muss schnell passieren, wenn Verdens Gang oder Dagbladet Wind davon kriegen, haben die da unten ja ihre eigenen Leute, capisce?«
Sie nickte, das kam ihr unfassbar gelegen, auch wenn es sich nur um zwei kleine Einsatztage handelte. Andreas saß auf ihrer Schreibtischkante und wippte mit dem Fuß, er musste sich sehr konzentrieren, um nicht Tonje zwei Tische weiter anzustarren. Tonje presste sich schluchzend mehrere Schichten Küchenpapier auf Mund und Nase und tippte mit der freien Hand eine SMS .
»Und wer kommt mit?«
»Keiner. Wir nehmen Geir, er hat Zeit. Er wohnt ja in Berlin. Er kommt zu dir ins Hotel.«
»Super. Der ist spitze. Weiß er, was er zu tun hat?«
»Das musst du ihm noch sagen.«
»Dann muss ich hier ein paar Sachen delegieren. Kann Tonje morgen Vormittag die Sache mit den Trondheimsolisten übernehmen?«
Tonje blickte aus feuchten Augen von ihrem Tisch auf.
»Die spielen rührend schöne klassische Musik, Tonje, das ist für dich im Moment genau das Richtige«, sagte sie.
»Du hast doch keine Ahnung, wie ich mich fühle!«, sagte Tonje und brach jetzt erst richtig in Tränen aus.
»Verzeihung, so war das nicht gemeint. Aber du musst dich jetzt auf die Arbeit konzentrieren, sei Profi, für alles andere ist hier jetzt kein Platz.«
»Genau«, sagte der Redakteur. »Ingunn hat’s erfasst.«
Als Andreas gegangen war, druckte sie ihr Ticket und die Hotelreservierung aus. Tonje weinte leise vor sich hin.
»Ich maile dir mal eben ein paar Hintergrundinfos über die Solisten und die Sachen, die ich bisher über sie gemacht habe. Und meine Süße, ausgerechnet heute hab ich keinen Nerv auf Liebeskummer. Ich habe auch keine Zeit, ich muss ganz schnell nach Hause und packen.«
»Aber ich war ganz sicher, dass er … er hat mich sogar seiner Mutter vorgestellt!«
»Kleine Tonje. Du musst zulassen, dass ein Mann dich ohne Wimperntusche, aber quicklebendig sieht. So, jetzt hab ich’s dir geschickt.«
»Ohne Wimperntusche? Wie meinst du das? Warum darf ich keine Wimperntusche tragen? Und was meinst du mit quicklebendig? Ich bin doch lebendig!«
»Denk darüber nach, bis ich wieder hier bin. Vielleicht begreifst du es in der Zwischenzeit.«
Schon im Auto bereute sie ihre Worte. Warum hatte sie Tonje wegen ihres Liebeskummers Vorhaltungen gemacht? Sie war doch auch einmal eine junge Volontärin gewesen und hatte geglaubt, dass es nach drei Wochen schon Liebe war, und sie hatte den Männern geglaubt, ihren Worten und nicht ihren Taten.
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Das Extrazimmer der Wohnung, das sie nicht Gästezimmer nannte, weil dort niemals Gäste übernachteten, und außerdem hatte sie seit dem Sean-Traum eine Abneigung gegen das Wort, beherbergte alles Nützliche für ihre vielen Reisen. Das Bügelbrett stand immer bereit, sie hatte ein großes Faible für weiße Baumwollhemden, an der Wand standen drei Koffer unterschiedlicher Größe, und auf einem Tisch lagen Make-up, Föhn, Gel und Spray, Seife, Shampoo und Creme, Zahnbürste und Zahnpasta, Minibinden und Tampons, Kopfschmerztabletten und Vitamintabletten. Es waren Gegenstände, die sie zu Hause nicht benutzte, sie hatte alles doppelt, um auch kurzfristig aufbrechen zu können.
Immer, wenn sie nach einer Reise den Koffer ausräumte, legte sie alles auf diesen Tisch, suchte nur die Badezimmerleckerbissen heraus, die sie aus den Hotels mitgenommen hatte. Im Badezimmer war ein großer Korb damit gefüllt, alles von kleinen Flaschen mit Körperlotion oder Duschgel bis zu Schuhputzmittel und Nähetuis.
In Berlin würde sie nur zwei Nächte bleiben, also entschied sie sich für den kleinsten Koffer. Sie öffnete ihn und legte ihn auf die Sitzkissen des alten Ikeasofas. Sie packte alles hinein, was auf dem Tisch lag, holte zwei Unterhosen und ein lilafarbenes Nachthemd aus Satin, dazu einen Morgenmantel aus Satin, weil sie nicht wusste, ob es im Hotelzimmer einen geben würde. Satin knitterte nicht und nahm nur sehr wenig Platz weg. Sie bestellte immer Frühstück aufs Zimmer, wenn sie in einem Hotel wohnte, und deshalb musste sie mehr am Körper tragen als nur ein kurzes Hemdchen, wenn der Zimmerservice mit dem
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