Die Liebesangst - Ragde, A: Liebesangst
Tür hinter sich abzuschließen. Sie dankte dem Himmel dafür, dass der Audi den Weg kannte, er hielt vor der Redaktion, und sie ging durch die Tür, die ihr Monatsgehalt sicherte, von dem sie auch eine fünfköpfige Familie hätte ernähren können. Sie hatte plötzlich Angst, noch immer Pantoffeln zu tragen, sie sah auf ihre Füße, aber die steckten in Turnschuhen. Schwarze Nikes. Jetzt war sie hier. Profi. Ab jetzt musste sie Profi sein. Gesicht und Stimme richtig einsetzen, und zum Glück hatte sie ja ein gewisses Training.
Alle gratulierten ihr zum Geburtstag, sie sagte immer wieder tausend Dank. Kuchen. Sie hätte den Kuchen vergessen.
Bei der Morgenbesprechung war sie still, versuchte, mit der Wand zu verschmelzen, was nicht so einfach war, weil sie aus unerfindlichen Gründen ein phosphorgrünes T-Shirt mit der Aufschrift »It’s not me, it’s U so get the hell out« angezogen hatte. Es war ungewaschen. Sie roch den Schweiß unter den Achseln, wenn sie sich bewegte, sie konnte sich nicht einmal daran erinnern, von wo sie das Hemd genommen hatte, vermutlich hatte sie es aus dem Korb für schmutzige Wäsche gefischt.
»Ich muss was mit Todeskram machen, ich fühl mich nicht so gut«, sagte sie zu Andreas.
»Okaaaay …? Wie lange?«
»Zwei, drei Tage. Glaub ich. Dann bin ich wieder auf Sendung.«
»Du machst den Todeskram auch verdammt gut. Obwohl … Aber Tonje ist ja auch nicht da.«
»Sie ist krank«, sagte Anja.
»Entweder heult sie, oder sie ist krank«, sagte Andreas. »Eins von beiden.«
»Lass Tonje in Ruhe«, zischte Ingunn ihn an. »Aus der wird was, sie hat das Zeug dazu.«
»Meine Fresse, Ingunn, du setzt dich für unser kleines Fräulein Volonteuse Superbabe ein?«
»Ja, tu ich. Ihr Text über die Trondheimsolisten war super. Ich hatte ihr zwar gutes Hintergrundmaterial zukommen lassen, aber wie sie das gedreht, zusammengebaut hat … sehr gut. Und das, obwohl es ihr privat wirklich saudreckig ging. Darauf kommt es an. Sie wird richtig gut. Das weiß ich einfach.«
»Während du jetzt Todeskram machen willst.«
»Ja, aber nur für ein paar Tage.«
»Dann ans Werk«, sage Andreas.
Die Bezeichnung »Todeskram« hatte sie der Rubrik gegeben. Alle Zeitungsredaktionen haben vorgefertigte Reportagen über Promis, die jederzeit sterben können. Eine Schlinge um den Hals, eine Handvoll potenter Medizin aus der Apotheke, eine Felswand im falschen Winkel, und schwupp, am nächsten Tag mussten alle Zeitungen, die was auf sich hielten, gehaltvolle Nachrufe drucken können, so umfangreich wie Porträts in der Samstagsausgabe. Detaillierte Biographie, Anekdoten, so war dein Leben, und jetzt ist es vorbei.
Ab und zu passierte es wirklich plötzlich und unvorhersehbar, wie bei Robert Burås von Madruga und dem Sänger Jan Werner, nichts hatten sie über die beiden Musiker vorrätig gehabt, und sie hatten wie besessen arbeiten müssen, um den Redaktionsschluss zu schaffen. Zum Glück verfügte sie über ein Riesenarchiv, das zur Sicherheit immer auf den neuesten Stand gebracht werden musste. Jede Zeitung musste eine Auswahl an Nachrufen parat haben, über bedeutende Norweger und über ausländische Promis. Musiker waren eine überschaubare Gruppe, die anderen Redaktionen mussten Nachrufe für alles zwischen Stephen Hawking und Barack Obama bereithalten.
»Ich mach weiter mit Wencke Myhre und Jahn Teigen«, sagte sie. »Und vielleicht mit einem von den ganz jungen. Die ziehen sich doch eine Line nach der anderen rein, das kann ganz schnell gehen.«
»Du bist eine zynische Kuh«, sagte Andreas.
»Journalistin mit Bodenhaftung«, korrigierte sie. »Und was den Kuchen für die Mittagspause anbetrifft, den hab ich vergessen. Ihr könnt in der Kantine einfach essen, was ihr wollt, und alles anschreiben lassen, ich bezahl dann hinterher.«
»Tausend Dank«, sagte Andreas. »Das ist nur recht und billig. Tradition ist Tradition. Und dann werd ich mir heute mal ein warmes Mittagessen gönnen.«
72
Jetzt ging es nur darum, das hier zu überleben, dachte sie. Überleben? Aber warum sollte sie das nicht überleben? Sie saß in ihrem Auto, das sie trotz des scheußlichen Geräuschs in der Vorderachse transportierte, sie war zurechtgemacht und frischgeduscht und aufgeräumt, sie hatte in der Redaktion abgeliefert, was von ihr erwartet worden war, sie hatte ein gutes Pensum geschafft, die Liebesbeziehung zwischen Jan Teigen und Anita Skorgan war ein wunderbares Thema gewesen, aber vielleicht lag das
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