Die Liebesangst - Ragde, A: Liebesangst
Problem gerade darin verborgen, die Erklärung, warum sie das Gefühl hatte zu sterben, beziehungsweise überleben zu müssen. Etwas zu überleben. Vermutlich sich selbst.
Sie hielt wie immer auf dem Parkplatz vor dem Statoilgebäude. Zu Hause hatte sie das Bett frisch bezogen, auch wenn das ungefähr so viel Kraft gekostet hatte wie eine Besteigung des Kilimandscharo. Warum hatte sie sich nicht einfach in das schöne, saubere Bett gelegt, als sie schnaufend davorstand? Warum hatte sie die Wohnung verlassen, hinter sich die Tür abgeschlossen und ihren Audi gebeten, sie zum Ladesti zu bringen? Sie wusste es nicht, sie wusste es nicht, und das war das Unheimliche daran.
Die Schlaufen an den Stöcken wollten sich nicht überstreifen lassen, die Armbanduhr lag zu Hause im Badezimmer, das Armband war nach wie vor zu eng. Sie griff sich in die Haare, konnte sich nicht mehr erinnern, ob sie sie offen trug oder sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren. Sie trug sie offen, natürlich. Woher hätte sie die Kraft nehmen sollen, sich einen Pferdeschwanz zu binden?
Es regnete. Das war gut. Der Regen kam ihr gerade wie gerufen. Sie folgte dem Weg und bog dann zu den kleinen Fischerhäusern ab, bis sie das gelbe erreichte, in dem Neil Youngs Harvest gespielt worden war. Sie hatte keine Ahnung, wie spät es sein mochte, tippte aber auf so gegen sechs, vielleicht sieben. Zeit für ein Erwachsenenessen.
Tom und Emma stand auf einem Schild am Türrahmen, es gab aber keine Klingel.
Sie klopfte. Ein Bellen ertönte. Tom Ingulsen öffnete. Dipl.-Ing. und Berater bei Anlagen mit Unterwasserkonstruktionen und Rohrleitungen.
»Ja, Hallo. Du bist es? Wie schön! Komm rein! Und herzlichen Glückwunsch nachträglich.«
Glücksstern wuselte zwischen ihren Beinen herum.
»Er läuft doch jetzt nicht weg?«, fragte sie.
»Komm erst mal rein, dann kann ich gleich die Tür zumachen«, sagte er.
Zum ersten Mal sah sie ihn bei Tageslicht, unrasiert und mit einem weißen T-Shirt, das über seiner Jeans hing, mit leuchtend blauen Augen, der Nasenrücken ein wenig schief, was zum Teufel machte sie hier, warum war sie hier, sie hatte einwandfrei PMS im Leib, ihr Körper kochte über vor Hormonen, die sie hasste, weil sie die Kontrolle verlor, ihr gefielen auch seine Hände, die waren breit und sauber.
»Da wird Emma sich aber freuen«, sagte er.
Und was ist mit dir?, dachte sie.
»Hallo, Ingunn! Darf ich dir einen Kuss geben? Wie blöd, dass du erst jetzt kommst, denn wir …«
Emma sprang an ihr hoch und küsste sie, Glücksstern bellte.
»Ich hatte Besuch bekommen, weißt du.«
»Nein, ich meine, heute. Wir haben gerade alles aufgegessen. Es hat so gut geschmeckt!«
Das Kind hing an ihrem Hals, sie musste sich nach vorne beugen, um sie zum Loslassen zu bringen, Emma war überraschend schwer dafür, dass sie so klein war.
»Kommen Sie doch rein«, sagte er. »Du kannst die Schuhe gern anbehalten.«
»Nein, es regnet doch, ich zieh sie aus. Habe feuchten Sand und so an den Sohlen.«
73
Es war ein lebhaftes Zuhause. Die Wände waren bedeckt von gerahmten Fotos und Zeichnungen, ein riesiges Ecksofa mit einem Chaos aus Kissen und Decken und einem riesigen Stoffkrokodil, auf dem Boden Teppiche und Läufer dicht an dicht, ein kleiner Fernseher auf einem Tischchen in der Ecke, eine Stereoanlage von Bose auf rot gestrichenen Apfelkästen, eine Menge CD s in zwei anthrazitgrauen Ikeasäulen, es roch nach Essen, Knoblauch und etwas anderem, was sollte sie sagen, tun, oder wie ihren Körper bewegen? Sie gehörte nicht hierher, sie war nicht gut genug, sie konnte ihnen nicht das Wasser reichen, beiden nicht. »Ich wollte nur kurz vorbeischauen. Ich war zufällig in der Nähe. Und außerdem habe ich diese reizende Mail bekommen.«
Diese reizende Mail. Sie könnte sich um eine Stelle bei einer Frauenzeitschrift bewerben.
Ihr Körper war so schwer, so voller Widerstand, sogar ihre Zunge war voller Widerstand, hatte sie nicht vor zu überleben? Dann musste aber wenigstens ihre Zunge funktionieren.
Sie musste sich zusammenreißen.
Emma war ein kleines Kind, sie musste sich zusammenreißen, sie fühlte sich betrunken, aber sie hatte keinen Tropfen konsumiert.
»Hast du schon gegessen?«, fragte er.
»Bin nicht ganz sicher. Nein, ich glaube nicht. Ich glaube nur, ich sollte … ich kann doch nicht einfach hier hereinplatzen und …«
»Selbstverständlich kannst du das.«
»Weißt du was, Ingunn! Jetzt macht Glücksstern ALLES
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