Die Liebesbloedigkeit
dreieinhalb Stunden Schlaf gebracht. Die Zeiten, als ich die Nächte durchschlafen konnte, sind lange vorbei. Heute bin ich fast regelmäßig zwischen zwei und vier Uhr morgens wach, auch wenn ich erst um Mitternacht zu Bett gegangen bin. In Freiburg betritt eine ältere Frau das Abteil und setzt sich mir gegenüber. Jetzt ist an Schlaf nicht mehr zu denken. In den nächtlichen Wachphasen arbeite ich eine Weile, oder ich stelle den Fernsehapparat an und schaue mir die Reste irgendwelcher Spielfilme an, die ich nicht begreife und nicht begreifen kann (nachts verstehe ich so gut wie nichts, ich sollte nachts nicht leben müssen). Dennoch geben mir die Filmreste das Gefühl, daß ich modern und zeitgenössisch bin, was mir tagsüber kaum gelingt. Aber was soll ich nachts mit dem Gefühl meiner Modernität anfangen? Aus der Jacke der älteren Frau entsteigt eine Motte und fliegt quer über den Mittelgang. Ich nehme an, die Motte wird sich auf meiner Jacke einen neuen Platz suchen. Das macht sie jedoch nicht. Sie läßt sich auf der gewölbten Kunststoffwand über den Sitzplätzen nieder. Draußen ist ein Reh ein bißchen zu nah an die Geleise herangekommen. Für Augenblicke erstarrt es zu einer Skulptur. Ich beneide das Tier, weil es seinen Schreck so klar darstellen kann. Im Auge des Rehs sehe ich seine Überforderung, die mich Sekunden später an Judith erinnert. Wenige Tage vor meiner Abfahrt suchte sie wieder nach Gründen für ihre Müdigkeit. Starr und erschrocken (wie das Reh) war sie gegen einen Schrank gelehnt und fragte sich und mich: Warum bin ich denn nur so matt? Ich sagte, für Müdigkeit gibt es keinen besonderen, sondern nur einen allgemeinen Grund: Indem das Leben vorübergeht, erzeugt es Erschöpfung. Judith war mit dieser Erklärung nicht zufrieden. Irgendwo muß ich doch meine Kraft gelassen haben, rief sie aus. Am gleichen Tag hatte sie eine Anfrage erhalten: Sie sollte eine Sopranistin am Klavier begleiten. Sechs Konzerte im September und Oktober in sechs verschiedenen Kleinstädten, mit Garantiehonorar. Judith zögerte mit der Entscheidung zwei Tage lang. Sie kämpfte mit sich, das Honorar könnte sie gut gebrauchen. Andererseits hat sie lange nicht mehr geübt. Das kleinstädtische Publikum hat Mitleid mit älteren, der Kunst hingegebenen Damen, sagte Judith spöttisch, auch die Sopranistin hat ihren Höhepunkt längst überschritten. Wenn ich ein bißchen spielerischer veranlagt wäre, könnte ich mich mit Ironie entschädigen. Zwei überreife Künstlerinnen bezaubern sechs Säle voller Witwen und Rentner! Aber dann, nach drei zerknirschten Tagen, lehnte Judith das Angebot ab. Nichts ist kläglicher als Kunst mit Provinzrabatt! sagte sie. Ihr alter Moralismus! Ein jüngerer Mann betritt das Abteil, setzt sich und holt zwei Plastikboxen mit Lebensmitteln aus seiner Reisetasche. Zwischen Freiburg und Basel sehe ich ein Dutzend Männer und Frauen in gebückter Haltung auf weiten Erdbeerfeldern. Sie tauschen ihre Strohhüte untereinander, sie zeigen sich gegenseitig ihre schönsten Erdbeeren und lachen miteinander. Was für ein wunderbares Bild! Glückliche Erdbeerpflücker! Solche Eindrücke gibt es heute nur noch auf alten Gemälden oder, für Sekunden, an den Fenstern vorüberfahrender Züge. Aus der ersten Box entnimmt der junge Mann ein belegtes Brot, aus der zweiten eine Banane. Das Brot stinkt, wie alle Brote, die morgens eingepackt und später wieder ausgepackt werden. Auch die Banane stinkt: aus dem gleichen Grund. Schon ist meine Überempfindlichkeit da. In ihrem schönsten Gewand, der vollkommenen Unsichtbarkeit, breitet sie sich bis in die kleinsten Ecken des Abteils aus. Dabei bin ich nicht sicher, ob das Brot und die Banane wirklich stinken oder nicht. Es ist möglich, daß ich den Gestank vor mir selber verstärke oder sogar erfinde, damit ich irgend etwas verhöhnen oder verabscheuen kann. Vermutlich ist es der Armutsgeschmack meiner Kindergartenzeit, die Erinnerung, als die Kinder ihre Brote auspackten und der Raum sich sekundenschnell mit dem Gestank der Kinderverlassenheit füllte. Jetzt fällt mir auch noch das Wort Proviant ein, ein Kriegswort, das Vater bis tief in die Nachkriegszeit hinein verwendete. Der junge Reisende schält seine Banane. Es ist ganz eindeutig: Die Bananenschale stinkt zu mir herüber. Ich überlege, ob ich den jungen Mann kurz zurechtweisen soll. Aber dann wird mir klar, daß es nicht verboten ist, in Anwesenheit anderer Menschen eine Banane zu schälen. Es
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