Die Liebesbloedigkeit
und macht dieses ebenfalls ordentlich? Kannst du mir das erklären?
Ich gehe ebenfalls in die Küche hinüber. Während des Gehens höre ich das Knacken meiner Fußknöchel. Es ist mir nicht recht, daß Sandra das Knacken ebenfalls hört. Ich setze mich so an den Küchentisch, daß ich die beiden Weinkistchen im Türrahmen des Wohnzimmers im Blick habe. Meine Sorge, daß es mit meiner Sexualität demnächst zu Ende sein könnte, kommt mir in diesen Sekunden töricht vor. Sandra wartet auf eine Antwort, aber ich habe im Augenblick kein Verlangen, über globale ethische Fragen nachzudenken. Ich sage nur: Dein Problem ist eines der schwierigsten überhaupt.
Ich habe nicht gewußt, beziehungsweise ich bin verblüfft, sagt Sandra, daß mir so gewaltige Fragen durch den Kopf gehen.
Sandra legt ihren Rock ab. Ich betrachte die über ihren Schlüpfer gezogene Strumpfhose.
Willst du einen Kaffee? fragt Sandra und lacht.
Warum lachst du? frage ich.
Weil du keine Antwort auf meine Frage weißt, sagt sie, das kommt nicht oft vor.
Ach so, mache ich.
4
Vierzehn Tage später, im Zug nach Interlaken, bin ich mit mir selbst der Meinung, ich hätte mich im tiefsten Inneren für Sandra entschieden, und zwar aufgrund ihrer Einfälle für eine, wie soll ich mich ausdrücken, Alterssicherung unserer Sexualität. Sandra hat aus der Geschichte unserer langjährigen erotischen Vertrautheit zum richtigen Zeitpunkt eine sexuelle Kumpanei gemacht, die mich immer wieder neu für Sandra einnimmt. Wir haben die Weinkisten-Technik inzwischen öfter ausprobiert, sie funktioniert problemlos. Ich kann mich wieder ohne Krämpfe, ohne Venenschmerzen und ohne Stiche im Knie bewegen. Ich sitze allein in einem Abteil und kann mich ohne Störungen der inneren Erörterung von Lebensfragen widmen. Bis jetzt habe ich nicht die geringste Ahnung, wie ich mich von Judith trennen soll. Unser Kontakt war in den letzten Tagen angespannt, was Judith konventionell gedeutet hat. Sie führte meinen Streß wie gewöhnlich auf die Vorbereitung der Apokalypse-Tagung zurück. Einmal habe ich die Bemerkung fallenlassen, daß ich in Kürze ein unerfreulicher alter Mann sein werde. Judith sagte nichts. Vermutlich war sie irritiert, vielleicht ein bißchen verwundert, weil sie derartige Äußerungen von mir nicht gewöhnt ist. Hätte sie sich beklagt, hätte ich geantwortet: Plötzlich hereinbrechende Grobheit gehört auch zu den unangenehmen Überraschungen des Alterns. Aber ich blieb auf meiner vorbereiteten Schlagfertigkeit sitzen. Ich ahne nur, die Trennung von Judith wird eine ungewöhnlich langwierige und schmerzreiche Sache werden, vor der ich mich jetzt schon fürchte, zumal ich die Trennung vor Sandra geheimhalten muß.
Obwohl ich nicht einmal ein Drittel der Strecke hinter mir habe, bin ich schon nervös. Vermutlich stört mich das unablässige Quietschen der mannshohen Gummilaschen zwischen den Waggons. Oder es ist das Klackern eines Computers im Abteil nebenan. Wieder habe ich das Gefühl, daß sich fast alle Menschen leicht an neue Geräusche gewöhnen, nur ich bleibe mit meinen Anpassungsleistungen zurück. Zu meinem Seminar in Interlaken haben sich achtzehn Teilnehmer verbindlich gemeldet. Mit zwanzig Teilnehmern hätte mir die Geschäftsführung des Hotels freie Unterkunft und Verpflegung gewährt und außerdem meine Fahrtkosten erstattet. Ich sitze mit dem Rücken an der Wand einer Toilette. Ich kann hören, welcher WC-Besucher sich nach dem Gebrauch der Toilette die Hände wäscht und welcher nicht. Es ist mehr als die Hälfte, die auf das Händewaschen verzichtet. In den Zeitungen werden die Deutschen deswegen von Zeit zu Zeit als Schmutzfinken bezeichnet, was ihnen jedoch nichts ausmacht. Seit etwa zwanzig Minuten spüre ich im Bereich des rechten Oberarms wieder eine Art Lähmung, die bis in die Schultern vordringt. Ich halte die Lähmungen sowohl vor Judith als auch vor Sandra geheim. Erst dieser Tage habe ich in der Zeitung von der unheilbaren Krankheit ALS (Amyotrophe Lateralsklerose) gelesen; die Krankheit zerstört die Nervenzellen im Rückgrat und lähmt nacheinander alle Muskeln, verschont jedoch das Gehirn. Je länger ich fahre, desto weniger bin ich darauf eingestimmt, daß mich am Ende der Fahrt nichts als ein stressiges Wochenende erwartet. Besonders fürchte ich mich vor dem sogenannten gegenseitigen Kennenlernen! Um mich auf andere Gedanken zu bringen, versuche ich ein wenig zu schlafen. In der vergangenen Nacht habe ich es nur auf
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