Die Liebesbloedigkeit
zu erschöpft, um das Handbuch zu schreiben. Im Fenster eines gelben Hauses springt in diesen Augenblicken ein Plastikrolladen aus einer seiner Laufschienen heraus und rutscht im unteren Drittel des Fenstervierecks zusammen. Erst dieser wunderbare Anblick erlöst mich vom untergründigen Weiterzittern der Erinnerung an meinen Vater. Das Kind, das vorhin geweint hat, fährt jetzt auf seinem Dreirad an mir vorbei und lacht mich an. Die Feuchtigkeit in meinen Augen ist getrocknet, ich nehme meinen Wäschesack und mache mich auf den Weg zu Sandra.
Ich rechne damit, daß sie ein bißchen verärgert sein wird, wenn ich sie ohne Vorankündigung mit meiner schmutzigen Wäsche konfrontiere. Aber sie öffnet mir in aufgeräumter Stimmung die Tür, nimmt mir den Wäschebeutel aus der Hand und sagt: Du kommst gerade recht, ich bin sowieso beim Waschen, in der Trommel ist noch eine Menge Platz. Sandra klappt das Bullauge der Waschmaschine noch einmal auf und stopft meine Sachen rein.
Du siehst nicht gut aus, sagt Sandra in der Küche.
Ich bin überarbeitet, sage ich.
Hast du Sorgen?
Ich frage mich immer mal wieder, wie lange ich die Apokalypse noch betreiben kann.
Aber dein neuer Vortrag ist doch fertig?
Gott sei Dank, sage ich; mein rechtes Knie schmerzt, außerdem habe ich ein bißchen Bauchweh.
Leg’ die Beine hoch.
Ich ziehe die Schuhe aus, Sandra polstert die rechte Sofalehne mit zwei Kissen, eine Minute später liege ich flach.
Warst du beim Arzt? fragt Sandra.
Warum?
Wegen deiner Wadenkrämpfe. Und überhaupt.
Nein.
Willst du nie zum Arzt gehen?
Nein.
Warum nicht?
Ich weiß zu gut, was passieren wird, antworte ich; meine Mutter hatte ebenfalls zuerst Wadenkrämpfe und dann Krampfadern. Der Arzt verschrieb ihr Magnesiumtabletten und Stützstrümpfe. Auch ich würde Magnesium und Stützstrümpfe kriegen. Die Tabletten würde ich nehmen, die Stützstrümpfe würde ich liegenlassen.
Wie deine Mutter? fragt Sandra.
Ja.
Aber du spürst doch Stiche im Unterleib, und dein Knie ist nicht in Ordnung.
Ich möchte antworten, aber dann rührt mich die Art, wie Sandra unter dem Kopfkissen ihr Nachthemd hervorzieht, es in die Waschmaschine stopft und ein frisches Nachthemd unter ihr Kopfkissen schiebt.
Und an die Wadenkrämpfe im Bett willst du dich gewöhnen?
Natürlich nicht, sage ich, aber was soll ich tun?
Sandra beugt sich zu mir herab und flüstert: Ich laß es nicht zu, daß du dich hängenläßt.
Natürlich nicht, wiederhole ich.
Ich rufe nächste Woche einen Internisten an und mache einen Termin für dich, sagt Sandra.
Ich will nicht zum Arzt, aber ich wage nicht zu widersprechen.
Krämpfe kriegst du doch nur im Liegen, oder?
Ja, sage ich, neuerdings sogar im Schlaf.
Und dann?
Dann springe ich aus dem Bett und laufe eine Weile im Zimmer herum.
Guter Gott, macht Sandra; ich habe mir was ausgedacht.
Was meinst du?
Ist dein Knie schon wieder gut? Kannst du aufstehen?
Ja, sage ich und erhebe mich.
Sandra geht vor mir in Richtung Schlafzimmer. Im Türrahmen sehe ich zwei umgedrehte Weinkistchen, links das eine, rechts das andere. Auf jeder Weinkiste liegt ein Kissen.
Solange du Krämpfe kriegst, vögeln wir im Stehen. Im Türrahmen, sagt Sandra.
Ich verstehe nicht sofort und frage: Wozu brauchen wir die Weinkisten?
Ich muß ein bißchen erhöht stehen, sagt Sandra, sonst kannst du nicht zu mir kommen.
Ach so, mache ich.
Sandra kichert. Findest du mich schamlos? fragt sie.
Ich überlege schon, ob deine Erfindung funktioniert, sage ich.
Sandra spreizt die Beine und steigt auf die Weinkisten, mit dem rechten Bein auf die rechte, mit dem linken Bein auf die linke Kiste.
Festhalten kann ich mich am Türrahmen, sagt sie.
Ich weiß schon lange, daß du eine Liebesbastlerin bist, sage ich.
Die Kisten haben einen festen Stand, sagt Sandra, sie können nicht wegrutschen.
Es könnte klappen, sage ich.
Mit Sicherheit, sagt Sandra und steigt von den Kisten herunter.
Aber du mußt mir versprechen, sagt sie, daß du zum Arzt gehst.
Jaja, mache ich.
Die Kisten sind nur eine vorübergehende Lösung.
Sie lacht und geht in die Küche.
Ich leide unter dem Widerspruch, ruft sie aus der Küche herüber, daß mein eigenes Leben immer gut geordnet ist, die Welt draußen aber nicht. Sobald ich meine Wohnung verlasse, stoße ich auf Unordnung und Chaos. Auch die Menschen, die ich kenne, leben in ordentlichen Verhältnissen. Wieso greift die Ordnung dieser vielen einzelnen Menschen nicht auf das Ganze über
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