Die Liebesbloedigkeit
wird erwartet, daß die anderen den Geruch hinnehmen. Das Leben nimmt keine Rücksicht auf das, was man nicht will oder nicht kann. Ich kann den Essensgeruch nicht länger ertragen, ich muß das Abteil verlassen. Draußen, auf dem Gang, habe ich die Hoffnung, daß ich meine Überempfindlichkeiten verliere, wenn ich mit einer Frau zusammenleben werde. Die dauerhafte Präsenz eines Menschen wird mir helfen, meine Sonderbarkeiten besser in Schach zu halten. Der Zug fährt langsam an einem Wildbach entlang. An den Ufern eines solchen Wildbachs wollte ich leben, als ich damals im Kindergarten meine Verlassenheit entdeckte. In einem Baumhaus oder in einem verlassenen Wohnwagen wollte ich mich einrichten und mich von Waldbeeren und Fischfang ernähren. Den ganzen Sommer über wollte ich Holz sammeln, damit ich mir im Winter ein Feuer machen könnte. Am Ufer wäre ein Kanu vertäut, in dem ich von Zeit zu Zeit den Wildbach hinaufpaddeln würde, um andere Eremiten zu besuchen. Es entgeht mir nicht, daß sich in der Wärme der Wiedererinnerung meiner Kinderphantasie meine Überempfindlichkeit langsam auflöst. Ich sehe, daß der junge Mann die Banane aufgegessen hat; auch seine Plastikboxen sind verschwunden. Wir nähern uns der Schweiz. Deutsche und schweizerische Polizisten und Zollbeamte streifen durch den Zug, aber sie fixie-ren nur kurz die Reisenden und ziehen weiter. Wäre ich als junger Mensch in die Schweiz gefahren, wäre vermutlich das ganze Land an meiner schon damals blühenden Überempfindlichkeit gescheitert. Die aufgeräumten Gärten, die sauberen Wege, die geputzten Häuschen überall hätten mich damals abgestoßen. Sogar die Bahnsteige in den Bahnhöfen wirken gepflegt, die Fabrikgebäude schauen aus wie frisch entstaubt oder frisch gewaschen. Ich werde Sandra darauf hinweisen, daß es ein Land gibt, in dem ihr Problem gelöst ist. Hier, in der Schweiz, greift der Ordnungssinn der einzelnen auf die Ordnung des Ganzen über. Auch ich finde Gefallen an der allgemeinen Überschaubarkeit. Sogar zu Schweizer Tunnels habe ich erheblich größeres Vertrauen als zu deutschen oder italienischen Tunnels. Ich glaube, in einem Schweizer Tunnel liegt nicht ein einziger Pappbecher und nicht ein einziger Pizzakarton herum.
Im Foyer des Hotels ›Seeblick‹ treffe ich auf sieben Reisende, die ich sofort als Seminarteilnehmer identifiziere. Sie füllen ihre Anmeldezettel aus, und selbst dabei zeigen sie eine gewisse Unruhe, fast Zappeligkeit. Vier von ihnen drehen sich sofort nach mir um, das heißt, sie haben gespürt , daß jemand in das Foyer eingetreten ist. Es sind geistig erregte Menschen, die für ihre intellektuelle Hippeligkeit entweder einen sie beruhigenden oder einen sie erst recht beunruhigenden Grund suchen, der ihnen nach zwei Tagen das Gefühl gibt, daß sie zu Recht nervös sind. An der Rezeption stelle ich mich vor. Es begrüßen mich der pensionierte Chemiker Dr. Gerberich und seine Frau, der Forstbeamte Suchanek und seine Frau, Frau Dr. Kuch, Studienleiterin aus Bad Segeberg, und ihr Mann, und Frau Dr. Krüger, Wirtschaftsanwältin aus Düsseldorf. Es kommt zu einem munteren Geplauder, wir zeigen, ich eingeschlossen, daß wir trotz Apokalypse gute Laune haben und sogar zu einer gewissen humorigen Ausstrahlung fähig sind. Ich sage, daß ich mein Gepäck unterbringe und pünktlich um 19.00 Uhr zur allgemeinen Begrüßung im Salon ›Burgund‹ wieder erscheinen und Programme austeilen werde.
Mein Zimmer ist zum Glück geräumig und still. Nur die Klimaanlage brummt. Ich setze mich an den Sekretär und schreibe an Sandra und Judith je eine Postkarte mit nahezu identischem Text. Auf dem Sekretär steht links ein golden schimmernder, vierarmiger Leuchter, rechts ein halbrundes Glas mit abgezupften Blütenblättern darin. Ich will mich noch ein bißchen ausruhen, aber vorher gehe ich auf die Toilette. Mein Urin ist bräunlich, fast dunkelbraun-rötlich. Ich bin so erschrocken, daß ich die Spülung nicht betätige. An Ausruhen ist jetzt nicht mehr zu denken. Die senkrecht herabstoßenden Lichtbündel der in die Decke eingelassenen Punktstrahler kehren als gleißende Flecke auf dem Marmorboden wieder. Ich möchte sofort wissen, wie gefährlich rötlich-brauner Urin ist. Auf einem Sockel hinter der Toilettenschüssel steht ein schnurloses Telefon. Links und rechts des Spiegels sind rötlich züngelnde Flammenleuchten angebracht. Auf einem Mauervorsprung zwischen Spiegel und Waschbecken stehen weitere
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