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Die Liebesbloedigkeit

Die Liebesbloedigkeit

Titel: Die Liebesbloedigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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fällt nichts ein, was diesen Tag vor anderen Tagen auszeichnen könnte, außer der Härte der Erinnerungen selber. Schon eine Minute später (der von mir bemerkte Greis ist derweil verschwunden) ist mir, als müßte ich die Kosten der Erinnerung bezahlen. Ein rätselhafter Schmerz schlägt mir den Hals hoch bis in die Augen hinein. Weil ich mich geniere, mir die Tränen abzuwischen, reiße ich die Augen weit auf und lasse die Feuchtigkeit vom Wind wegtrocknen. Ich setze mich auf eine Bank, lege den Wäschesack neben mir ab und beruhige mich. Dabei wollte ich immer, daß es meinem Vater einmal besser ergehen sollte als mir. Woher diese Zärtlichkeit für ihn kommt, weiß ich nicht. Ich habe nicht gewußt, daß es einen fast selbst umbringt, wenn man einen Toten zu lieben beginnt. Nicht weit von mir liegt ein jüngerer Mann auf einer Bank und schläft. Seine Sandalen sind von den Füßen abgefallen und liegen neben der Bank. Das heißt, es liegt nur noch eine Sandale da. Mit der anderen Sandale spielen ein paar Kinder Fußball. Nach einer Weile verlassen die Kinder den kleinen Platz, kicken aber vorher die eine Sandale weit weg und kichern dabei. Ich frage mich, ob ich den Kontakt zur Realität langsam verliere. Wahrscheinlich ist dieser Verlust ein geheimnisvoller Vorgang. Ich denke, der Kontakt zur Wirklichkeit besteht darin, daß die allermeisten Menschen (wie ich) immerzu umhergehen, sich mal dahin und mal dorthin setzen, mit diesem und jenem Menschen reden und dabei das Gefühl haben, jeden Tag ist alles genau so, wie es schon gestern und vorgestern war und wie es auch morgen wieder sein wird. Auch wer das Gefühl der Wiederkehr langsam verliert, bleibt in diesem befangen, obgleich er in seinem Inneren über rätselhafte Unstimmigkeiten zu klagen anfängt. Sagen wir, es gibt in seinen Wahrnehmungen ein paar krumme Stellen beziehungsweise Löcher, die er eigenmächtig ausstaffiert. Ich selbst bin dafür ein gutes Beispiel. Denn es ist nicht wahr, daß die Kinder eine der Sandalen des auf der Bank liegenden Mannes weggekickt haben. Im Gegenteil, die Kinder haben beide Sandalen ordentlich zur Bank getragen und sind erst dann weggegangen. Warum fälsche ich zuweilen etwas ab, was ich doch richtig beobachtet habe? Ich frage mich, ob ich mir über meine Entstellungen Sorgen machen muß oder ob es normal ist, wenn man sich nach innen als Wirklichkeitsveränderer betätigt. Aber solange ich nur für mich entstelle, werden diese Vorgänge als gewöhnlich bezeichnet werden können, hoffe ich. Aufpassen muß ich nur, wenn ich anfange, anderen Menschen gegenüber meine Korrekturen als wahrhaftig darzustellen.
    Während ich grüble, fängt auf dem Platz ein Kind zu weinen an. Das war schon öfter so. Ich sitze da und kaue an ein, zwei Gedanken, da zerstreut mich ein Kinderweinen. Die Folge ist, ich lasse meine Gedanken fallen und widme mich der Frage, ob es zwischen meiner Angst vor Wirklichkeitsverlust und dem Kinderweinen einen Zusammenhang gibt. Übernimmt das Kind in diesen Augenblicken die Stafette meines Schmerzes und trägt sie ins Nirgendwo? So vertreibt ein Schmerz den nächsten, so macht eine Angst die nächste unwichtig, und doch füllt das Gefühl des Scheiterns mehr und mehr das Leben aller. Ich empfinde derart stark die universale Unerlöstheit der Menschen, daß ich Lust verspüre, aufzustehen und den paar Leuten und Kindern ringsum mein Bedauern auszusprechen. Besonders den schon Erlahmten und Erschöpften unter ihnen möchte ich kameradschaftlich die Hand drücken. Ich kenne mich im Leben der Erschöpften sehr gut aus, weil ich mich für die Erschöpfung als Form schon seit langer Zeit interessiere. Unsere Verhältnisse produzieren unablässig Erschöpfung, ausreichend Platz für die Erschöpften gibt es aber nicht. Der Erschöpfte ist eine stigmatisierte Figur. Er bildet das System ab, das über uns herrscht, und die Lächerlichkeit seiner Versprechungen. Ich könnte (kann) den Erschöpften geeignete Ruheplätze zeigen, wo sie sich ungestört hinlagern können. Ich habe diese Plätze selbst ausprobiert, es sind Kleinode und Verstecke, absolute Geheimtips. Vor ungefähr fünfzehn Jahren, als ich noch halbwegs jung war und noch Karriere machen wollte, habe ich einmal ein »Handbuch für Erschöpfte« schreiben wollen, eine Art Stadtführer mit Angabe von schattenspendenden Bäumen, unbekannten Schleichwegen (ohne Werbetafeln links und rechts), stillen Cafés (ohne Gedudel) und so weiter. Leider war ich selber

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