Die Liebesbloedigkeit
werden mir nachher verächtlich entgegenrufen: Da kommt ja unser Stirnfusselphilosoph. Unüberbietbar grauenvoll! Es ist klar, der Empfindungsruin zwischen zwei Frauen wird mich umbringen. Auf dem Plakat neben dem Schrank lese ich anstatt Internationale Linienverkehre zweimal hintereinander Infernalische Liebesverkehre. Jajaja! Du hast dich von zwei Frauen über Jahre hin mit Liebe abfüttern lassen und wirst jetzt an der von dir selbst herbeigeführten Liebesverstopfung ersticken. Es ist Angst, was in mir hochsteigt. Ich suche den Raum nach einem Feind ab und finde ihn nicht. Irgendwo piept ein Gerät. Es setzt sich das Gefühl durch, daß ich die Entscheidung für Sandra wieder rückgängig machen muß. Zum dritten Mal fasse ich mit der Hand in meinen geöffneten Koffer. Ich gehe auf den Fernsehapparat zu und schaue höhnisch auf ihn herunter. Dabei ähnele ich nur den älteren Leuten, die auf der Straße plötzlich stehenbleiben (ich habe sie oft beobachtet), weil sie einen Schmerz im Stehen etwas leichter ertragen als während des Gehens. Obwohl das Zimmer vollgestellt ist mit einem Schreibtisch, zwei Sesseln, einer Stehlampe, einer Kommode und einem Rauchtisch, habe ich den Eindruck, mich in einer Wüste zu befinden. Ich drücke mir ein Seidenkissen, das ich unter normalen Bedingungen nicht anfasse, gegen das Gesicht. Die Depression ist in diesen Augenblicken so stark, daß ich mir den Kitsch der rosafarbenen Seide ohne Widerstand gefallen lasse. So habe ich mir immer eine Selbstverfemung vorgestellt: Nur eine Katastrophe wird dich weichmachen können. Es ärgert mich, daß ich immer noch reflektiere. Als ich Kind war, schaute ich, wenn ich mittags von der Schule nach Hause kam, immer zuerst zum Balkon unserer Wohnung hoch. Ich glaubte damals, meine Mutter werde eines Tages eine schwarze Fahne von unserem Balkon herunterhängen lassen. Die Fahne wäre das Zeichen, daß ich nicht mehr nach Hause kommen müßte, weil endlich die von allen befürchtete Katastrophe eingetreten wäre. Hier, in meinem Hotelzimmer, gibt es zum Glück keine schwarze Fahne, sonst würde ich sie vielleicht jetzt aus dem Fenster hängen. Ich weiß nicht, was stärker ist, der Überdruß an meinem leeren Schädel oder das Grauen vor dem heutigen Abend. Ich werde mit allen Seminarteilnehmern kurze oder längere Begrüßungsgespräche führen. Einige Teilnehmer werden diese Gespräche so anregend finden, daß sie bis Mitternacht mit mir reden wollen. Ich suche in der Kommode nach einer weißen Fahne oder einem weißen Bettuch, das ich aus dem Fenster hängen könnte: zum Zeichen, daß ich aufgebe, ein für allemal. Aber ich finde keine weiße Fahne und kein weißes Bettuch, ich trete ohne Geständnis ans Fenster. Sofort gefällt mir ein Hund, der zuerst an Blumenrabatten entlanggeht und dann vor drei älteren Frauen stehenbleibt. Der Hund schaut so voller Einfühlung die Frauen an, daß mir die Idee kommt, die Menschen haben den Tieren schon immer leid getan. Ja, das Mitleid war (ist) der einzige Grund, warum sich so viele Tiere immerzu in der Nähe der Menschen aufhalten: um ihnen beizustehen. Und zwar stumm, nach Art der Tiere, weil Stummheit die einzige Weise ist, in der fortlaufendes Mitleid sowohl ausgedrückt als auch ertragen werden kann. Meine Einfälle über Tiere/Menschen/Mitleid gefallen mir. Du hättest Anthropologe werden sollen, räsoniere ich, das wäre besser gewesen. Ich schiebe einen Sessel an das offene Fenster, hole mir aus der Minibar eine kleine Flasche Sekt und lasse mich nieder. Auf dem Fensterbrett liegt eine tote Fliege. Ihre kleine schwarze eingetrocknete Leichenhaftigkeit sieht ganz wunderbar aus. Der starre tote Körper nimmt Stellung gegen den Kitsch des Zimmers und löst seine Aufgabe glänzend. Der Sekt ist kalt und frisch und muntert mich genauso auf wie die Frechheit der toten Fliege. Ich hole mir eine zweite Flasche Sekt aus der Minibar, kehre zum Fenster zurück und spreche in der Art eines Golem den Tieren draußen ein passendes Lebensalter zu: Die Fliegen sollen künftig zehn Jahre alt werden, die Schwalben fünfzig, die Enten hundert – und die Hunde sollen unsterblich sein, wegen ihrer Verdienste um die Menschen. Meine Stimmung schlägt um. Eine selige Unglückseitelkeit breitet sich in mir aus und macht mich stolz auf mein Liebesverhängnis. Ich begreife den Stimmungsumschwung nicht, nehme ihn aber dankbar hin. Schließlich sind es solche emotionalen Verstrickungen, sage ich mir, die den Menschen
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