Die Liebesbloedigkeit
Glasschälchen mit Blütenblättern. Es gibt nichts Einsameres als bräunlich-roten Urin in einem glänzend spiegelnden Badezimmer. Erst jetzt sehe ich am Kopf der Badewanne eine weiße Teichrose in einer flachen gläsernen Vase. Ich berühre die Blütenblätter, die Teichrose ist echt. Genau unterhalb der Teichrose ragen zwei golden schimmernde Wasserhähne in die gleißend helle Badewanne. Die Vielzahl der Lichtquellen bringt meine wächserne Haut ungünstig zur Geltung. Ich überlege kurz, ob ich noch vor dem ersten Zusammentreffen mit den Seminarteilnehmern ein Bad nehmen soll. Schon zum dritten Mal berühre ich die Blütenblätter der Teichrose. Judith hat unterhalb ihrer Kinnspitze ein Stück Haut von ähnlich samtener Konsistenz. Judith! Sandra! Ich will beide Frauen jetzt bei mir haben und mir von ihnen versichern lassen, daß rötlich-brauner Urin nicht schlimmer ist als grünlich-bleicher Grippeauswurf. Vermutlich ist es sinnvoller, ich stelle Judith und Sandra endlich einander vor und mache sie mit einem künftigen Leben zu dritt vertraut, anstatt mich von der einen oder anderen zu trennen. Nein, das wäre die absolute und ultimative Apokalypse, die ich nicht überleben würde. Ich gehe zurück in das Zimmer und höre zum ersten Mal das Sirren der Minibar. Neben dem Schrank hängt hinter Glas ein altes Reiseplakat, das die internationalen Linienverkehre der Schweizerischen Eisenbahnen anpreist. Ich öffne die Minibar und stelle die Flaschen ein wenig um, aber das Sirren verschwindet nicht. Ich erinnere mich an die Zeit, als ich Judith kennenlernte. Sonntags fanden wir kaum aus den Kissen heraus. Um das Bett herum waren Zeitungen, Bücher, Wein, Gebäck, Spiegel, Gläser und Unterwäsche verstreut. Dazu ein oder zwei Teller mit Trauben, Feigen und Oliven. Ich entdeckte, daß mir das Leben gefiel, wenn es stundenlang die Form einer Hinlagerung annahm. Nach zwei oder drei Stunden hatte ich das Gefühl, endlich in meinem Versteck am Wildbach angekommen zu sein. War die Liebe nicht überhaupt ein Nachspiel zur Kindheit, eine Wiederholung des Wunsches, eine selbstgebaute Höhle niemals verlassen zu müssen? Ein paar Wochen lang wollte ich damals erreichen, daß wir unseren Orgasmus gleichzeitig hatten, aber ich hatte nicht viel Erfolg. Judith beruhigte mich. Sie sagte, der ungleichzeitige Orgasmus ist eine Fürsorge der Natur. Mann und Frau sollen lernen, sich furchtlos in der Abwesenheit der Lust zu betrachten. Die Erklärung erschütterte mich damals, gefällt mir heute aber sehr. Ein andermal sagte sie: Du schaust so traurig auf die Samenflecken im Bettuch. Ich antwortete, daß ich nicht traurig sei, im Gegenteil, ich war glücklich und stumm. Judith glaubte mir nicht. Du hast deinen Samen verloren, sagte sie, etwas Bedeutsameres kann ein Mann nicht verlieren, und dieser Verlust stimmt dich traurig. Das wäre richtig, sagte ich damals, wenn ich nur wenig Samen hätte. Aber ich habe doch soviel davon! Jeden Tag gibt es neuen Samen! Es ist genau umgekehrt: Der Mann muß den Samen verlieren, andernfalls wird er traurig. Wir debattierten eine Weile über die Bedeutung des verlorenen Samens, dann sagte Judith plötzlich: Merkst du, wie uns das Sprechen vereinsamt? Auch diese Bemerkung beeindruckte mich. So etwas hatte ich noch nie gehört. Die Leute, die ich kannte, behaupteten das genaue Gegenteil, daß man über alles reden müsse, weil Schweigen ungesund sei und so weiter. Du willst sagen, antwortete ich damals, wir sollten nicht alles aufklären wollen und schon gar nicht sofort! Jedenfalls nicht immer und nicht immer durch Reden, sagte Judith.
Plötzlich überfällt mich eine starke Trauer darüber, daß ich künftig ohne Judith werde auskommen müssen. War ich (bin ich) denn irrsinnig, mich ausgerechnet von ihr trennen zu wollen? Ich habe das Gefühl, in meinem eigenen Inneren umzufallen und in den Tümpeln meiner Dummheit unterzugehen. Ich setze mich auf das Bett, um meinen Untergang besser zu überstehen. Schweiß dringt in mein Uhrarmband und weicht es auf. Mit einem Papiertaschentuch trockne ich mir das Gesicht. Dabei habe ich tragische Lebenssituationen immer vermeiden wollen. Erst jetzt erkenne ich, daß es bereits tragisch ist, Tragik vermeiden zu wollen. Im Spiegel über dem Nachttisch sehe ich, daß mir Papierfitzelchen auf der Stirn kleben. Ich entferne sie nicht, sondern gehe eine Weile mit ihnen im Zimmer umher und denke: Du bist ein Papierfitzelapokalyptiker, mehr nicht. Die Seminarteilnehmer
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