Die Liebesbloedigkeit
worin das von den Rentnern verbreitete Unbehagen besteht. Vielleicht geht es von ihrer Einheitskleidung aus. Fast alle tragen helle Popelinejacken, helle Leinenhosen, hellbeige Hemden und sahnefarbene Schuhe beziehungsweise Sandalen. Vielleicht wird es auch von der zufriedenen Tumbheit ihrer Gesichter ausgelöst, von der schamlosen Selbstgewißheit derer, die sich von morgens bis abends für gesund halten müssen. Meine kleine Apokalyptiker-Runde läuft auseinander. Wir sehen uns später, sage ich und nicke mehrmals. An einer Stelle, an den ausgebeulten, weil zu lange getragenen Schuhen, zeigt sich doch das Alter der Leute. Die unförmig gewordenen Füße haben den Schuhen von innen ihre Form aufgedrängt. Besonders vorne, im Zehenbereich, stehen die Ausbuchtungen der Oberteile über die Randnaht hinaus. Obwohl die Rentner sichtbar ermüdet sind, greifen sie nach herumliegenden Handzetteln, Prospekten und Fahrplänen; oder sie schlagen Speisekarten auf und beugen sich über die kleine Schrift auf den Anzeigetafeln rund um die Rezeption; oder sie nennen sich Telefonnummern von Ärzten und rufen sich die Namen von Arzneimitteln zu, für die sie dann gleich wieder nach kleinen Zettelchen zum Aufschreiben suchen.
5
Am folgenden Morgen bin ich schon vor sieben Uhr auf dem Weg in den Breakfastroom. Ich möchte während des Frühstücks nicht reden, keine fremden Gesichter sehen und nach Möglichkeit einen Tisch für mich allein haben. Aber dann muß ich sehen, daß viele Gäste den gleichen Wunsch haben. Fast ein Dutzend Menschen trifft ratlos im Frühstücksraum zusammen und weiß nicht, wo und wie man sich eine halbe Stunde zurückziehen kann. Ich habe besonderes Pech. Ich steuere zwar auf einen der wenigen noch freien Tische zu, aber kurz nach mir erscheint Frau Schmittner, die Zahntechnikerin, mit Mann und Kind. Das Kind sitzt im Kinderwagen, den Herr Schmittner im Raum umherschiebt. Die Familie folgt mir und besetzt die noch freien Plätze an meinem Tisch. Frau Schmittner zerkleinert sofort eine Banane zu Brei und füttert damit das Kind. Herr Schmittner besorgt am Buffet Brötchen, Butter, Käse, Marmelade für uns alle. Frau Schmittner findet meinen gestrigen Vortrag »extrem relevant«. Während sie das Kind füttert, will sie wissen, wie ich in meine Zukunftsvision die faschistischen Horden einordne, die bereits jetzt Ausländer und Behinderte zu Tode prügeln. Glauben Sie, daß der Staat dabei ein Auge zudrückt? fragt sie. Ein Socken des Kindes rutscht aus dem Kinderwagen heraus und fällt auf den Fußboden. Frau Schmittner hebt den Socken auf und legt ihn auf den Tisch. Herr Schmittner gießt uns Kaffee ein und fragt, was er auf unsere Teller legen soll. Ein schon geöffnetes Butterschälchen fällt in den Kinderwagen. Unser Sohn heißt Ferdinand, so heißt sonst niemand, sagt Frau Schmittner und lächelt. Das Kind ergreift das Butterschälchen und leckt es fast ganz aus. Frau Schmittner ist entsetzt, als sie den butterverschmierten Mund des Kindes sieht. Sie nimmt Ferdinand das Butterschälchen weg, das Kind fängt an zu greinen. Das Kind will das Butterschälchen zurück, sonst nichts. Frau Schmittner setzt sich den weinenden Ferdinand auf den Schoß, sie versucht ihn mit Bananenbrei zu füttern und redet dabei über deutsche Angst, deutsche Gewalt, deutsche Polizei und deutsche Ahnungslosigkeit. Das Kind zeigt jetzt starken Widerstand, es streckt seinen kleinen Körper auf den Schoß der Mutter, so daß Frau Schmittner es nicht mehr füttern kann. Sie bricht das Frühstück ab.
Er kommt jetzt in die erste Schlafphase, sagt Frau Schmittner, vorher werde ich ihn noch ein bißchen stillen; sind Sie nachher noch da, wenn ich zurückkomme?
Ich nicke und verneine zugleich, Frau Schmittner erhebt sich und verläßt mit dem greinenden Kind den Raum. Der Ehemann besorgt ein Tablett und trägt die beiden halb aufgegessenen Frühstücke auf das Zimmer der Schmittners. Ich betrachte den neben einem Marmeladegläschen liegenden Kindersocken, den Herr Schmittner mitzunehmen vergessen hat. Da erscheint Frau Dr. Krüger, die Wirtschaftsanwältin. Sie fragt, ob sie sich zu mir setzen darf, ich räume den Socken und zwei stehengebliebene Gläser zur Seite. Frau Dr. Krüger beschwert sich mit sanfter Stimme über die modernen Hotels.
Obwohl genug Personal da ist, sagt sie, muß sich jeder Gast am Buffet anstellen und mit seiner Kaffeetasse den Frühstücksraum durchqueren, eine Zumutung ist das.
Ich stimme zu und
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