Die Liebesbloedigkeit
individuieren und seinem armseligen Dasein doch noch eine unverwechselbare Gestalt geben. Ich will jetzt keine Sekunde meiner Liebesverschlingungen missen, weder die mit Sandra noch die mit Judith. Sie sind es, die mir die Kraft geben, das Einerlei meines Lebens und meines Berufs auszuhalten. Wenige Sekunden später schließe ich das Fenster und ziehe mein Sakko an. Der Schweiß auf meiner Stirn ist getrocknet, ich entferne die Papierfitzelchen. In der Toilette betätige ich die Spülung und schaue seltsam schweigend dabei zu, wie mein bräunlich-roter Urin verschwindet. In aufgeräumter Stimmung begebe ich mich eine halbe Stunde später nach unten und begrüße die Seminarteilnehmer mit einer kurzen launigen Rede. Hinterher plaudere ich mit den Leuten auf eine Art, die ich sogar selbst als charmant empfinden muß.
Am folgenden Morgen hat sich der Salon ›Burgund‹ in einen kleinen Konferenzraum verwandelt. Auf den hufeisenförmig zusammengeschobenen Tischen liegen weiße Damasttücher. Auf jedem Platz steht ein Glas und eine Karaffe mit klarem Schweizer Gebirgswasser, daneben liegen je ein Hotelbleistift und ein Notizblock. Die Damen sind perfekt gekleidet und geschminkt. Die Herren machen, wie so oft, einen eher mitläuferischen Eindruck. Es ist offenkundig, daß der Besuch des Seminars auf den Willen der Frauen zurückgeht. Die allein angereiste Wirtschaftsanwältin, die mir gestern abend versichert hat, daß sich ihr Wertegefüge gerade verändert, sitzt nur drei Meter von mir entfernt und schaut mich unentwegt an. Eine Investmentexpertin aus Stuttgart, die sich auf der rechten Hufeisenhälfte niedergelassen hat, legt immer mehr von sich ab. Zuerst die Uhr und den Armreif, dann die Brille und die Ohrringe. Gerade zieht sie ihre Schuhe aus, dann sind Ring und Haarspange dran. Mit Ausnahme der Schuhe liegen alle Gegenstände auf dem Tisch. Die links sitzende Geschäftsführerin eines Reisebüros leckt sich während meines Vortrags das Karmesinrot von den Lippen. Darunter kommen sanfte, himbeerfarbene Lippen zum Vorschein, die viel eindrucksvoller sind als die blutrot geschminkten Lippen von zuvor, was ich der Frau am Nachmittag vielleicht sagen werde. Ich bin in hervorragend apokalyptischer Stimmung und schleudere mustergültig gehaltvolle Sätze in den Konferenzraum. An der Wirtschaftsanwältin fällt mir ein beständiges Zittern auf, das von ihren Händen ausgeht und von diesen zum Glas und von diesem in das Wasser im Glas weitergeleitet wird. Frau Vogt, die Reisebürochefin, verläßt den Raum, kehrt mit frisch geschminkten Lippen zurück, die sie sich jetzt wieder ableckt. Frau Schmittner, eine stillende Zahntechnikerin, verbreitet Unruhe. Ihr Mann fährt den Säugling draußen in den Fluren umher. Wenn das Kind schreit und von dem Mann nicht mehr beruhigt werden kann, ruft er per Handy Frau Schmittner zum Stillen nach draußen, was Frau Dr. Krüger, die Wirtschaftsanwältin, mit Verärgerung beobachtet.
Die Preisgabe der Diskretion im öffentlichen Raum ist eine Vorstufe zum faschistischen Ordnungsdenken, sage ich mit leicht angehobener Stimme. Die Preisgabe führt dazu, daß Menschen wegen individueller Eigenschaften oder wegen eines abweichenden biographischen Datums öffentlich gekennzeichnet werden können, und sie führt außerdem dazu, daß die Gekennzeichneten selbst den zwiespältig gefährlichen Charakter ihrer Kennzeichnung nicht durchschauen. Denken Sie an die vielen Behinderten, Homosexuellen, Ausländer und sonstigen Fremden, die sich im Schein der Toleranz outen; sie überschätzen einen kurzen Anerkennungseffekt, den ihnen die Selbstkennzeichnung einbringt, und sie unterschätzen beziehungsweise verkennen die Bedrohung, die langfristig auf sie zukommt. In den Augenblicken der Selbstkennzeichnung, sage ich, weiß niemand, ob sie dem Gekennzeichneten nutzen oder schaden wird. Erst nach der Kennzeichnung schlagen die Normen wieder zurück. Denn nur in der großen Menge, sage ich, die sich der Ähnlichkeit mit sich selbst immer sicher ist, entsteht das Bedürfnis nach Diskriminierung derer, die dieser Ähnlichkeit nicht oder nicht ausreichend nachkommen. Jeder neue Faschismus, sage ich, ist die Folge eines Systems gelungener Kennzeichnungen, die nicht mehr zurückgenommen werden können.
Der Beifall für meine Rede ist stark. Ich setze mich, um den Beifall zu drosseln, aber es klappt nicht. Ich erhebe mich erneut, verbeuge mich in drei Richtungen, bleibe etwa eine halbe Minute stehen und setze
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