Die Liebesbloedigkeit
zu glitschig ausschaut. Kurz vor zehn Uhr erscheine ich mit Vortragsmappe im Salon ›Burgund‹. Der Saal ist voll. Die Saarbrücker Rentner schauen mich mit kaum beherrschter Vorab-Zustimmung an. Etwa dreißig Minuten lang rede ich präzise und druckvoll über die hochexplosive Einnistung faschistischer Kräfte in ehemals demokratischen Nischen. Im Salon ist es absolut still. Ich schaue in die gefrorenen Gesichter der Leute. Vermutlich haben sie das Gefühl, an bedeutsamen Enthüllungen teilzunehmen. Dennoch verlasse ich ohne Not nach dreißig Minuten das engere Feld der politischen Apokalypse und verwandle mich in einen Dekadenzpessimisten und Alltagsberater. Vermutlich schwächt mich der Anblick der Rentner. Ich sehe ihnen an, daß sie Hilfe brauchen und Hilfe erwarten. Ich kann nicht längere Zeit mit Hilfsbedürftigen zusammensein und ihre Hilfsbedürftigkeit übersehen. Deswegen sage ich ihnen, daß sie sich schützen müssen. Meiden Sie die überreizten Städte! Suchen Sie sich ungefährliche Schleichwege! Gehen Sie der hypermodernen Nervosität nicht in die Falle! Und melden Sie jede Gewalttat, die Sie sehen oder von der Sie hören, sofort der Polizei, auch wenn es überflüssig scheint und Sie wissen, daß die Täter nicht verfolgt werden. Notfalls muß der Staat erst durch die Zahl der unaufgeklärten Verbrechen auf die Idee kommen, daß wir mit soviel eingetrocknetem Blut nicht leben wollen! Meine Zuhörer merken offenbar nicht, daß ich das Genre gewechselt habe. Im Gegenteil, sie halten den Schlußteil meines zweiten Vortrags für besonders zeitnah, menschlich und aufklärerisch. Noch während des Vortrags kommt mir mein Leben verpfuscht vor. Du wühlst für Geld das Gefühlsleben von Rentnern auf, deine elende Beredsamkeit schreckt nicht davor zurück, dich als Visionär des Untergangs aufzuspielen. Der Beifall nach dem Vortrag ist mächtig und lang anhaltend. Ich erhebe mich und verbeuge mich und richte den Blick aus dem Fenster hinaus in die edle Naturferne. Die Seminarteilnehmer wollen sofort mit der Diskussion beginnen, aber ich verweise programmgemäß auf den Nachmittag. Das heißt, eine halbe Stunde vor dem Mittagessen hole ich für die Saarbrücker Rentner eine Kurzfassung des gestrigen Vortrags nach. Hinterher bin ich erschöpft, aber meine Ermattung wird mir als Verdienst angerechnet. Die meisten der Saarbrücker Naturfreunde zahlen bar; drei geben mir einen Scheck, drei wollen eine Rechnung nach Hause geschickt haben. Ich notiere sorgfältig alle Details. Die Abwicklung des finanziellen Teils verstärkt das Gefühl des verpfuschten Lebens. Ich nenne mich einen Kassenwart der Lebensangst und spiele mit dem Gedanken, mit meinem Vortrags-Tourismus zu brechen, noch heute, sofort. Die Ratlosigkeit darüber, was ich statt dessen treiben soll, macht meinen Blick vermutlich flimmernd. Ich sitze da, nippe an meinem Glas und warte darauf, daß sich der Salon leert. In diesen Augenblicken schwebt eine schweizerische Saaltochter in den Raum. Sie ist höchstens zwanzig, klein, schlank, ein bißchen puppig, dabei hübsch und freundlich, mit dunklen Augen und einem schönen Mund. Ich möchte sie am liebsten samt ihrer weißen Schürze und dem schwarzen Haarband in Geschenkpapier einwickeln und mit nach Hause nehmen. In der rechten Hand trägt das Mädchen eine Weinflasche, deren Öffnung sie über mein Glas hält. Während sie mein Glas vollschenkt, schaut sie mich nicht an. Erst danach verbeugt sie sich knapp, hebt den Blick und verläßt den Raum. Aus Dankbarkeit für die Erscheinung trinke ich mein Glas auf einen Zug leer und hoffe, die Saaltochter werde erneut mein leeres Glas entdecken und noch einmal nachschenken. Eine leichte Mittagstrunkenheit und Stimmungsschwere macht mir zu schaffen. Seitlich einfallendes Sonnenlicht macht mich auf den Staub auf meinen Brillengläsern aufmerksam. Ich nehme die Brille ab und putze die Gläser mit einer Papierserviette. Die Wirtschaftsanwältin tritt an meine Seite und gibt mir wortlos ihr Brillenputztuch. Sie können es behalten, sagt Frau Dr. Krüger, ich habe noch eines. Oh, vielen Dank, mache ich und verbeuge mich im Sitzen. Eine Weile fesselt mich die Eigenart der Saarbrücker Rentner, daß sie fast alles, was sie einander mitteilen, zwei- bis dreimal wiederholen. Ich sehe zur Tür, die Saaltochter tritt nicht ein. Ich erinnere mich an ihre kleine, mollige Hand, als sie die Weinflasche hielt. Ich spürte das Verlangen, die Hand zu berühren. Jetzt erinnere
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