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Die Liebesbloedigkeit

Die Liebesbloedigkeit

Titel: Die Liebesbloedigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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ich mich an meine Jugendzeit, als die Berührung einer Mädchenhand eine unvorstellbare Zufriedenheit auslöste, die wochenlang anhielt. Jetzt kommt eine noch ältere Erinnerung: wie ich als Kind im Kinderwagen saß und von meiner Mutter durch den Regen geschoben wurde. Ich versuchte immer wieder, mit meiner kleinen Hand den Ausgang des über mich gespannten Regencapes zu finden, und fand ihn nicht. Statt dessen fuhr ich mit der Hand an der Innenseite des Capes entlang und begann nach einiger Zeit zu weinen, weil meine Mutter meine Not nicht bemerkte. Es erstaunt mich die enorme Wirkung der Hand der Saaltochter.
    Ich verteile, wie immer bei solchen Seminaren, Fragebögen an die Teilnehmer. Gefragt wird nach der Zufriedenheit mit der Tagung. Die Leute können vier Kategorien ankreuzen: sehr zufrieden, zufrieden, nicht zufrieden, unzufrieden. Fast alle sind sehr zufrieden. Nur eine Frau ist unzufrieden, ein Mann ist nicht zufrieden. Ich werde noch eine Nacht bleiben und versuchen, mich hier ein wenig auszuruhen. Aber mir schwant, daß ich keine Ruhe finden werde. Mein Ekzem glüht. Ich denke nicht an Judith und nicht an Sandra, ich denke an die Saaltochter. Ich weiß nicht einmal, wie sie heißt. Nicht zum ersten Mal habe ich die Vorstellung, Judith und Sandra zu verlassen und mit einer neuen Frau einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen. Und nicht zum ersten Mal bin ich überzeugt, daß diese Idee ein großer Quatsch ist, meiner unwürdig. Die Saaltochter ist noch diesseits aller Fürchterlichkeiten, die im Namen der Liebe in ihr Leben eintreten werden. Allerdings gibt es einen Quatsch zweiter Ordnung, der den Quatsch erster Ordnung außer Kraft setzt und sich über diesen erhebt. Der Quatsch zweiter Ordnung sagt zu mir: Berühre die Hand der Saaltochter, sie wird dich besänftigen. Es beschleicht mich das Gefühl, ich weiß heute noch weniger als gestern und vorgestern, was ich tun soll. Ich darf auf keinen Fall zulassen, daß aus meinem Problem eine innere Verknotung wird, aus der ich nicht mehr herausfinde. Du hast immer den doppelten Boden oder die zweite Wirklichkeit gesucht, auch in der Liebe, das heißt, du hast eine komplizierte Lebensweise gewählt, und dafür mußt du jetzt bezahlen, aus. Ich habe alles, was ich hinsichtlich meines Konflikts denken kann, schon zu oft gedacht. Die Wiederholung der immer gleichen Gedanken und Befürchtungen belastet mich unerträglich. Gerade wiederhole ich erneut eine dieser überflüssigen Erwägungen. Obwohl ich weiß, daß eine andere Frau mein Problem nicht löst, frage ich mich zum dritten Mal, ob ich die Saaltochter nicht... Mein Gott, was für ein Quatsch dritter Ordnung. Ich frage mich, ob ich langsam gemütskrank werde. Wie froh bin ich, daß niemand etwas von meiner inneren Zersplitterung erfahren muß. Ich warte, bis alle Seminarteilnehmer den Raum verlassen haben. Das Problem des Alterns ist: Man erfährt zuviel Neues über sich, aber das Neue ist undeutlich und wirr. Es ist still geworden. Ich gehe zur Tür und prüfe nach, ob sich niemand auf dem Flur befindet. So gut wie alle Seminarteilnehmer haben ihre Hotel-Bleistifte und Notizblöcke an ihren Plätzen zurückgelassen. Ich brauche keine Bleistifte und keine Notizblöcke, aber ich sammle Bleistifte und Notizblöcke ein und verstaue sie in meiner Kollegmappe. Der kleine räuberische Akt verschafft mir eine gewisse Erleichterung. Es muß etwas geben, wonach ich mich immerzu sehne, irgendeine innere Unstillbarkeit. Oder leide ich inzwischen an Liebesverblödung? Ich muß den Konferenzsaal verlassen, damit mich niemand mit dem Verschwinden der Bleistifte und Notizblöcke in Verbindung bringen kann. Schon erregt mich das Wort Liebesverblödung. In einem meiner Nebenberufe bin ich auch Laienpsychologe, aber über Liebesverblödung habe ich bisher weder einen Artikel gelesen noch eine Fernsehsendung gesehen. In einem Seitenflur begegnet mir der Geschäftsführer des Hotels. Er bleibt stehen und flüstert mir zu, daß ich umsonst logiere und auch keine Restaurant-Rechnungen bezahlen muß. Ich verberge mein Behagen nicht und sage: Sehr nett, vielen Dank. Sie bleiben doch noch bis morgen? Gern, ja, mache ich, als hätte er mich soeben auf diese Idee gebracht. Eine mit Alkohol und Panik vermischte Sehnsucht ergreift mich. Dabei weiß ich nicht einmal, wonach ich mich sehne. Es ist möglich, daß aus der Liebe zu Sandra und Judith längst eine ehemalige Liebe geworden ist, die ich aus Selbstsucht und Angst nicht als

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