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Die Liebesbloedigkeit

Die Liebesbloedigkeit

Titel: Die Liebesbloedigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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solche enthülle. Dann wäre ich mit Sandra und Judith nur noch aus Gründen der Altersanhänglichkeit zusammen. Das ist die übliche Niedertracht des Denkens, die ein Teil meiner Panik ist. Ich muß nur ein Weilchen warten, dann geht die Niedertracht vorüber, wie sie immer vorübergegangen ist. Ich habe nicht für möglich gehalten, daß es eine so mächtige innere Unbeholfenheit wie die meine überhaupt gibt. Vermutlich sehnt sich meine Sehnsucht nach etwas, was es nicht gibt. Dieses phantastische Moment wäre (ist) der Kern der Liebesverblödung. Ich benutze den Begriff Liebesverblödung, als wüßte ich, was Liebesverblödung ist. Ich gehe in mein Zimmer und verstaue die Bleistifte und die Notizblöcke in meinem Koffer. Es regnet, offenbar schon seit einer Weile. Den Rest des Sonntags will ich nicht im Hotel verbringen. Auf keinen Fall will ich auf den Fluren des Hotels meinen Seminarteilnehmern begegnen und einen weiteren ungeplanten Vortrag halten. Ich creme mir beide Hände ein und schaue aus dem Fenster. Plötzlich will ich belohnt werden dafür, daß ich mein eigenes Seminar ausgehalten habe. Und das Hotel! Mein Zimmer! Das Sirren der Minibar! Ohne einen Mucks bis zu dieser Stunde! Wenig später gelingt es mir, die Rezeption zu erreichen, ohne einem einzigen Seminarteilnehmer zu begegnen. Im Foyer quält mich kurz das quietschende Geräusch von rollenden Koffern, an das sich die Menschheit offenbar problemlos gewöhnt (nur ich mal wieder nicht). An der Rezeption leihe ich mir einen Hotelschirm und bin verschwunden. Der Frühabend ist trotz des (nachlassenden) Regens warm, fast schwül. Leer und verlassen liegen die nassen Straßen da, die meisten Geschäfte haben geschlossen. Eine Drogerie hat geöffnet, ich stelle mich vor das Schaufenster und betrachte eine junge Frau, die mit einem Kleinkind auf dem Arm im hellweißen Inneren der Drogerie steht. Ich schaue auf ein nasses Dach, auf einzelne nasse Ziegel, auf zwei nasse Schornsteine, auf eine nasse Fernsehantenne, auf zwei nasse Tauben, die sich in einer nassen Dachrinne paaren. Die junge Mutter verläßt die Drogerie und trägt ihr Kind dicht an mir vorüber. Zart und weich wie in ein paar Staubwölkchen stößt der Wind in das trockene Haar des Säuglings. Aus Langeweile denke ich: Man kann Säuglingshaar mit Staubwölkchen vergleichen, nicht aber Staubwölkchen mit Säuglingshaar. Heute noch will ich verbindlich wissen, ob es Liebesverblödung gibt oder nicht. Ich will in keine Bar, aber ich werde keine Wahl haben. Die Bars sind eng, laut, leer, verlassen. Ich schaue von außen in die Bars hinein und sehe Männer, die wie Verstoßene an den Theken lehnen. Ein Barkeeper tritt mit einer Holzstange aus einem Lokal heraus und stößt mit der Stange von unten gegen die Markise, so daß das Regenwasser seitlich herunterpladdert. Aus Dankbarkeit für das heitere Platschgeräusch trete ich ein. Und will sofort wieder umkehren. An einem der Tische sitzen die Wirtschaftsanwältin und Frau Schmittner, die Zahntechnikerin (ohne Mann, ohne Kind). Aber jetzt bin ich in der Bar und kann nicht einfach wieder umkehren. Ich nicke den beiden Frauen zu, gehe aber nicht an ihren Tisch, sondern stelle mich an die Theke. Vielleicht komme ich so davon. Unterhalb der Theke wische ich mir die Creme wieder herunter, weil ich nicht mit weißlich schimmernden Händen auffallen will. An der Theke stehen ein paar jüngere Männer und eine Frau und reden mit dunklen Stimmen über Kunst, Revolution und Liebe. Ich stehe neben der Frau, deren Schulterblätter sich stark unter ihrem Pullover abzeichnen. Sie reibt, wenn sie spricht, mit einer Daumenspitze so sehr die Haut unterhalb ihres rechten Schlüsselbeins, daß sich dort schon rötliche Pusteln gebildet haben. Ich überlege, ob ich mich in das Thekengespräch einschalten und dann das Thema Liebesverblödung in die Debatte einfließen lassen soll. Auf diese Weise könnte ich testen, ob vier offenkundig gebildete Menschen Liebesverblödung für möglich halten oder nicht. In diesen Augenblicken macht mein Bewußtsein aus dem Wort Liebesverblödung das Wort Liebesblödigkeit. Auch dieses Wort habe ich nie gehört. Durch den Andrang des neuen Wortes fühle ich mich behindert und nehme nicht an der Thekenunterhaltung teil. Ich versuche, mein Bewußtsein anzuschauen, aber es hat keine Gestalt und kein Gesicht. Dafür meldet sich der Laienpsychologe in mir und schleudert mir den Begriff Aphasie! entgegen. Genau! Still und heimlich habe ich

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